USA und Kanada sind immer noch die beliebtesten Ziele für einen Austausch. Linda Schombach vom Gymnasium Wentorf in Schleswig-Holstein hat zehn Monate in einer indischen Familie gelebt.

Hamburg/Wentorf. Das rot-golden gemusterte Gewand will korrekt gefaltet sein. Linda hat sich einen Teil des fünf Meter langen, wallenden Tuches mehrfach um die Hüfte gewickelt. Ein Meter ist übrig. Den legt das 16 Jahre alte Mädchen geschickt und schnell in Schichten übereinander und steckt das ganze in den Bund über den Bauchnabel. Das andere Ende der Stoffbahn wird von vorn über die Schulter geworfen und in Form gezupft. Fertig ist der Sari. Linda betrachtet sich noch einmal im Spiegel. „So müsste es halten“, sagt die Schülerin. Das tut es, das festliche Kleid ohne Knöpfe oder Reißverschluss. Die Kunst des Sarifaltens hat Linda in Noida gelernt, einer Stadt in Nordindien, etwa 20 Kilometer südöstlich von Delhi. „Da, wo Sebastian Vettel gerade wieder ein Formel-1-Rennen gewonnen hat“, sagt Linda, während sie sich ein Bindi auf die Stirn klebt. Das tropfenförmiges Mal ist im Hinduismus eigentlich verheirateten Frauen vorbehalten. Im modernen Indien tragen es Mädchen und Frauen als modische Zierde. Zuletzt streift sich Linda Batterien von Armreifen über beide Hände.

Mit AFS sitzt eine der erfahrensten Austauschorganisationen in Hamburg

Zehn Monate hat die Elftklässlerin des Gymnasiums Wentorf in Schleswig-Holstein in Noida als Gastschülerin gelebt. Von Juni 2012 bis Mai dieses Jahres hat sie dort die private Genesis Global School besucht und in einer Familie mit Vater, Mutter, Großeltern, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen gelebt.

Linda ist laut einer Studie des Bonner Bildungsberatungsdienstes Weltweiser eine von etwa 1350 Jugendlichen in Schleswig-Holstein, die sich im Schuljahr 2012/2013 auf das Abenteuer Ausland eingelassen haben. In Niedersachsen waren es 2300, in Hamburg etwa 1700 Schülerinnen und Schüler, die mindestens drei Monate an einem Schüleraustauschprogramm teilgenommen haben. Gemessen an der Gesamtzahl der Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 18 Jahren pro Bundesland ist Hamburg bundesweit spitze in Sachen Schüleraustausch. 8,4 Prozent besuchten im vergangenen Schuljahr eine Schule fern der Heimat. In Schleswig-Holstein waren es 4,4 Prozent, in Bremen 4,2 Prozent. Lediglich Niedersachsen lag knapp unter dem Bundesdurchschnitt von 2,8 Prozent. Tendenz allerdings steigend.

Ein Grund für das Fernweh norddeutscher Schüler mag sein, dass erprobte Austauschorganisationen in Hamburg sitzen, darunter mit AFS – Interkulturelle Begegnungen eine der ältesten und erfahrensten Organisationen weltweit. Youth for Understanding (YFU) und Eurovacances agieren ebenfalls von Hamburg aus. Allein mit AFS organisierten 278 norddeutsche Schüler im vergangenen Schuljahr ihren Auslandsaufenthalt.

Linda Schombach zog es mit YFU nach Indien. Warum Indien? „Ich wollte in ein Land, das ich überhaupt nicht kenne“, sagt die Gymnasiastin. „Es sollte was Exotisches sein.“ In Vorbereitungstreffen habe sie sich intensiv auf die Zeit im Ausland einstimmen können. „Außerdem haben wir Indienreisenden nach der Ankunft in Delhi drei Tage einen Intensivkursus Sprache und Kultur gehabt.“

Indien ist tatsächlich ein exotischer Wunsch, gemessen an den von Schülern am häufigsten genannten Wunschländern. „Die größte Nachfrage verzeichnen wir nach wie vor für die USA“, sagt Christopher Braun, PR- und Marketingleiter bei AFS. Das begründe sich in einer langjährigen transatlantischen Tradition. Weitere beliebte Ziele der Schüler seien derzeit Australien und Neuseeland. Das sind nur vier von 50 Ländern, in die zum Beispiel AFS Schüler vermittelt, sei es für ein dreimonatigen Kurzzeitprogramm, für ein halbes oder ein ganzes Jahr, darunter Tschechien und die Türkei, Bolivien und Brasilien, China, Thailand und Südafrika. Exotische Länder wie diese bewerben die Organisationen mit Erfahrungsberichten von zurückgekehrten Gastschülern wie Linda. „Die Menschen in Nordindien sind unglaublich herzlich. Man wird nicht als Fremde behandelt, sondern überall aufgenommen.“ Die Unterrichtssprache in Indien sei Englisch. „Verkehrssprachen sind Englisch und Hindi. Auf Hindi kann ich mich inzwischen ganz gut verständigen.“

Linda ist immer noch damit beschäftigt, die Indien-Eindrücke zur verarbeiten. „Das Bild von vielen Menschen auf den Straßen zum Beispiel. Man hat den Eindruck, dass es dort unglaublich viele Menschen gibt, aber das liegt daran, dass sie sich ganz viel im Freien aufhalten. Das ist toll.“ Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland sei es ihr seltsam vorgekommen, dass sich so wenige Menschen auf den Straßen bewegten. „Und die wenigen bleiben an den Ampeln stehen. In Delhi schert sich niemand um Ampeln.“ Das Indienjahr habe sie verändert, sagt Linda. „Ich habe das Gefühl, offener geworden zu sein. Mein Interesse an fremden Menschen und Kulturen ist gewachsen.“ Genau das ist das Ziel, das Austauschorganisationen mit ihren Angeboten erreichen möchten. „In deinem Austauschjahr lernst du, die Welt aus einem ganz anderen Blickwinkel zu sehen. Dies wird dir auch ungeahnte neue Perspektiven auf dich selbst und dein Leben in Deutschland eröffnen“, heißt es bei YFU. „Ich will mich ehrenamtlich für YFU engagieren und Schülern, die überlegen ins Ausland zu gehen, erzählen, wie toll Indien ist“, sagt Linda.

So wie Linda sich in den Sari eingewickelt hat, entwickelt sie sich wieder. In Noida sei sie zur Hochzeit eines Cousins eingeladen gewesen, bei der die weiblichen Gäste Saris trugen. „An der General School gab es eine Art Abiball. Da trugen die Mädchen auch Saris, aber sonst kleiden sie sich so wie wir.“ Linda faltet sorgsam das goldrote Tuch und verstaut es wieder mitsamt Armreifen in einer Schachtel – Lindas Schachtel der Indien-Erinnerungen.

Die norddeutsche Schüleraustausch-Messe ist für Schüler, Eltern und Lehrer geöffnet am Sonnabend, 2. November, 10 bis 16 Uhr, im Atrium der Hanse Merkur Versicherung, Siegfried-Wedells-Platz1, 20354 Hamburg.