Die inneren Zusammenhänge in der Skandalgeschichte Schleswig-Holsteins. Ein Rückblick in eine Landespolitik, in der blanker Hass regierte und die Kulturwende im Jahr 1988.

Kiel. Schleswig-Holstein schon wieder. Eine Steueraffäre diesmal. Die Kieler Oberbürgermeisterin erlässt einem großspurigen Lebemann 3,7 Millionen Euro Zinsen und Kosten auf alte Gewerbesteuern, damit der Augenarzt die ursprüngliche Steuerschuld in Höhe von 4,1 Millionen Euro im Gegenzug abstottert. So einen Deal hat es in dieser Größenordnung in diesem Land noch nicht gegeben. Affären schon.

Barschel/Pfeiffer. Schublade. Lolita. Heide-Mord. Keine Affäre dabei, die nicht schnell existenziell wurde für die Beteiligten. Darunter machen wir es hier nicht. „Gefangene werden nicht gemacht“, schreibt der „Spiegel“.

Es gibt einen roten Faden zwischen den Affären. Um ihn zu verstehen, muss man hinter die Affärenzeit zurückblicken. In die 50er-, 60er- und 70er-Jahre. In eine Landespolitik, in der blanker Hass regierte. Eine reaktionäre CDU, in der mehr als vereinzelt alte Nazis eine Rolle spielten, hatte vom Land Besitz ergriffen, regierte 38 Jahre lang. Dagegen stand chancenlos eine vom marxistischen Geist eines Jochen Steffen geprägte SPD. In den Fluren des Landeshauses sprach man nicht einmal miteinander.

In die vergiftete Atmosphäre hinein erschien Anfang der 80er-Jahre mit dem Sozialdemokraten Björn Engholm vergleichsweise eine Lichtgestalt. Gebildet. Elegant. Gut aussehend. Eloquent. Verbindlich. Alles in allem: bedrohlich. In der Staatskanzlei des machtversessenen CDU-Ministerpräsidenten Uwe Barschel wurden alle erlaubten und einige unerlaubte Mittel in Bewegung gesetzt, den Lübecker zu stoppen. Bespitzelung, Denunziation, Zersetzung gehörten dazu. Der Medienreferent Reiner Pfeiffer war der Mann fürs Grobe. Uwe Barschel war der politisch Verantwortliche.

Für Barschel endete die Affäre 1987 tödlich. Für die CDU politisch gewissermaßen auch. Engholm und die SPD regierten von 1988 an allein. Kulturwende in Schleswig-Holstein.

Sie wurde knapp sechs Jahre später gestoppt, als herauskam, dass der vormalige SPD-Chef Günther Jansen Barschels Handlanger Pfeiffer nach dessen schmutzigen Tricks jahrelang bezahlt hatte. Mit Bargeld aus der Schublade. Eine neue Affäre war geboren, die alte kochte wieder hoch. Engholm stürzte 1993 über eine lässliche Lüge von 1987, die SPD verlor unter seiner Nachfolgerin Heide Simonis die absolute Mehrheit.

Gleichwohl regierte die erste Frau an der Spitze einer Landesregierung knapp zwölf Jahre lang, so lang wie kein anderer Regierungschef in Kiel. Es endete bitter. An ihr Amt klammernd, zimmerte Simonis („Und wo bleibe ich dabei?“) 2005 ein brüchiges Bündnis aus rot-grüner Minderheitsregierung und einem tolerierenden SSW, der ihr zur Einstimmenmehrheit verhalf. Rechnerisch. Politisch stand das Konstrukt keinen Tag durch. Ein Abweichler oder eine Abweichlerin in den eigenen Reihen verweigerte Simonis anonym die Wahl zur Ministerpräsidentin. Viermal. In vier verzweifelten Wahlgängen. Aus Simonis wurde – nichts mehr. Die SPD rettete sich noch in eine Große Koalition unter CDU-Chef Peter Harry Carstensen und verlor 2009 die Macht.

Sie erlangte sie schon drei Jahre später zurück, in der Folge der unappetitlichen Lolita-Affäre des damaligen CDU-Chefs und Spitzenkandidaten Christian von Boetticher. Ein Enddreißiger, der zu seiner 16-Jährigen Freundin in ein Düsseldorfer Hotel reiste („Es war schlichtweg Liebe“) und politisch darüber fiel. Der Kieler Oberbürgermeister Torsten Albig gewann mit der SPD die Landtagswahl.

Seine Nachfolgerin im Kieler Rathaus ist Susanne Gaschke. Die Oberbürgermeisterin und ihr Mann, der SPD-Bundestagsabgeordnete Hans-Peter Bartels, sind Zöglinge des sozialdemokratischen Einzelgängers Norbert Gansel, der sich in der Schubladen-Affäre als Saubermann und Aufklärer gerierte und dabei insgeheim eigene Karriere-Ambitionen verfolgte. Auf der anderen Seite ist der heutige SPD-Landesvorsitzende Ralf Stegner ein Zögling von Gansels Gegenspieler Günther Jansen, der die Schubladen-Affäre ausgelöst hatte. Spätestens aus jener Zeit sind Stegner und Bartels/Gaschke einander in tiefer Abneigung verbunden.

Kein Wunder, dass die Kieler Steuer-Affäre schnell die Landesebene erreichte. Gaschke versuchte, ihren Vorgänger Albig in die Verantwortung für ihren hoch umstrittenen Steuer-Deal zu ziehen. Albig und Stegner hielten dagegen. Gaschke musste für einen brüchigen Burgfrieden klein beigeben; noch ist die Sache nicht ausgestanden. Die Bundesanwaltschaft, die Kieler Staatsanwaltschaft, die Kommunalaufsicht und die Disziplinarkammer im Innenministerium sind damit befasst.

So hängt alles zusammen im Land der Affären. Darüber hinaus gibt es frappierende Parallelen in den Persönlichkeiten einiger Protagonisten. Barschel, von Boetticher, Gaschke – alles Überflieger, erfolgsverwöhnt, nie den Geschmack der Niederlage verspürt. Und im ersten heftigen Gegenwind nicht standfest.

Allerdings hilft das kleine Handbuch des Krisenmanagements hier oben in Schleswig-Holstein offenbar auch weniger als andernorts. Weglächeln kann man Affären hier nicht. Das hat wohl mit dem norddeutschen Menschenschlag zu tun. Wenn wir sauer sind, sind wir richtig sauer. Gefangene werden nicht gemacht. Susanne Gaschke spürt das gerade.

Michael Kluth, 48 (l.), war von 1987 bis 2005 Abendblatt-Redakteur , Ulf B. Christen, 51, von 2001 bis 2012. Heute sind beide bei den „Kieler Nachrichten“