Niedersachsen braucht dringend Weichenstellungen. Doch stattdessen zerfleischen sich die Politiker im Landtag

Hannover. Schrille Zwischenrufe und gleich danach eine Rüge des Präsidiums, verächtliches Gelächter und Gegrummel, wenn der niedersächsische Landtag diskutiert: Der Besuch einer niedersächsischen Landtagssitzung gleicht derzeit einem Kulturschock. Die Mehrheitsfraktionen von SPD und Grünen einerseits und CDU und FDP andererseits sind fast ausschließlich damit beschäftigt, den politischen Gegner anzugreifen. Und immer geht es dabei mindestens um einen Skandal.

Skandalös aus der Sicht der Oppositionsparteien ist, dass der grüne Agrarstaatssekretär Udo Paschedag sich eigenmächtig eine zu große Dienstlimousine genehmigte. Aber weil der Mann deshalb inzwischen geschasst wurde, wird sich nun ein Untersuchungsausschuss daran machen, ganz genau zu klären, wann der Landwirtschaftsminister Christian Meyer von diesem Verstoß gegen die Dienstwagenrichtlinie des Landes erfuhr und was wiederum Ministerpräsident Stephan Weil darüber wann genau wusste – handschriftliche Anmerkungen des Staatssekretärs in einem Aktenvermerk inklusive. Erklärtes Ziel der Oppositionsparteien ist es, Landwirtschaftsminister Meyer zu kippen. Dafür gibt es ein Vorbild: Zur Jahreswende 2010/2011 hatten SPD und Grüne so lange Front gegen die damalige Landwirtschaftsministerin Astrid Grotelüschen (CDU) gemacht, bis sie Ministerpräsident David McAllister genervt vor die Tür setzte. Jetzt wird ausgetestet, wie gut das Nervensystem seines Nachfolgers ist.

Ab der Jahreswende 2011/2012 funktionierten dann SPD und FDP regelmäßig den Landtag zum Tribunal um – mit mühsam in Frageform gepressten neuen Verdächtigungen gegen den zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff. Auch diese Art hat jetzt Vorbildfunktion. Nun versuchen CDU und FDP mit Feuereifer, ihrerseits Weil unter Druck zu setzen. Die angedrohte Klage vor dem Staatsgerichtshof gehört – wie damals – ebenso dazu wie endlos lange Fragelisten. Für CDU-Oppositionsführer Björn Thümler ist bereits jetzt vor der ersten Zeugenvernehmung im Untersuchungsausschuss klar: „Der Ministerpräsident und sein Agrarminister haben in ihren Einlassungen zum Fall Paschedag gegenüber der Öffentlichkeit und dem Parlament die Unwahrheit gesagt.“

Vor diesem Hintergrund scheint es nur eine Frage der Zeit, bis SPD und Grüne ihrerseits mit der Einsetzung eines U-Ausschusses drohen. Die Steilvorlage lieferte vor drei Wochen der neue SPD-Innenminister Boris Pistorius. Er machte öffentlich, dass der niedersächsische Verfassungsschutz in den vergangenen Jahren rechtswidrig Journalisten ausgeschnüffelt hat. Seither zeigen SPD und Grüne täglich mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf den früheren CDU-Innenminister Uwe Schünemann – als habe der persönlich die entsprechenden Dossiers angelegt. Inzwischen ist klar, dass auch eine Mitarbeiterin der grünen Landtagsfraktion sowie der Göttinger Anwalt Sven Adam mit eigener Akte beim Verfassungsschutz geführt wurde.

Weswegen CDU und FDP nun vor allem die Rolle der neuen Verfassungsschutzpräsidentin Maren Brandenburger hinterfragen. Die hatte bereits ab April stichprobenartig die Datenbank ihres Amtes unter die Lupe genommen und Fälle von Journalisten gefunden, die widerrechtlich ausspioniert wurden. Aber erst unmittelbar vor der Kommunalwahl in Hameln-Pyrmont machte Brandenburgers Chef Pistorius den vermeintlichen Skandal öffentlich – der frühere CDU-Innenminister Uwe Schünemann war als Kandidat für das Amt des Landrates angetreten.

CDU-Generalsekretär Ulf Thiele startete prompt einen Entlastungsangriff. So habe der grüne Landtagsabgeordnete Helge Limburg noch im Jahr 2008 gefordert, Inzest zu legalisieren: „Das steht in der schlimmen Tradition der Pädophiliepolitik der Grünen bis Anfang der 80er-Jahre.“

Dringliche Anfragen, aktuelle Stunden, mündliche Fragen – im niedersächsischen Landtag geht es immer wieder vor allem darum, auf Verdächtigungen der anderen Seite mit eigenen Verdächtigungen zu reagieren. Das Abitur nach acht oder neun Gymnasialjahren, die Verteilung ständig knapper werdender EU-Fördermittel, der richtige Umgang mit der Landwirtschaft, die Einhaltung der Schuldenbremse: Das Land braucht dringend Weichenstellungen, leistet sich stattdessen aber erbittert ausgetragene Gefechte um Personen.

Vor allem die CDU ist noch nicht wirklich in ihrer Rolle als Oppositionspartei angekommen. Die Christdemokraten wirken gehemmt, der ehemalige Regierungschef und Landesvorsitzende David McAllister sitzt noch immer seltsam unbeteiligt inmitten der Fraktion und sehnt wohl – wie seine Mitstreiter – den Tag herbei, da er sich 2014 Richtung Europaparlament verabschieden kann.

Auf einem ganz anderen Blatt steht, dass die neue rot-grüne Mehrheit den eigenen Start verstolpert hat. Ministerpräsident Stephan Weil wirkt wie ein Verwalter und nicht wie ein Gestalter, der Rollenwechsel vom Oberbürgermeister einer zugegeben großen Stadt zum Ministerpräsidenten ist größer, als er dies bislang begriffen hat.