Politiker sind Staatsschauspieler, sagte Helmut Schmidt. Der Catcher Matthias Ilgen (SPD) ist neu im Parlament und nimmt den Altkanzler wörtlich.

Husum/Wandsbek. Als Peer Steinbrück während des Bundestagswahlkampfs gefragt wurde, ob er junge Hoffnungsträger für seine Partei nennen könne, fiel ihm ziemlich rasch „dieser Ortsvereinsvorsitzende aus Husum“ ein. An den Namen konnte Steinbrück sich ad hoc zwar nicht erinnern, aber der junge kräftige Mann mit den kurzen rötlichen Haaren, der eine dünnrandige Streberbrille auf der Nase trug, war ihm im Gedächtnis geblieben: Denn dieser „Ortsvereinsvorsitzende“, der Matthias Ilgen heißt, 29 Jahre alt ist und einen Sitz in der Husumer Stadtvertretung bekleidete, hatte in jenem April des Jahres 2012 die Traute, zwischen ein paar Gläsern schweren Rotweins im Weinkeller des Fünf-Sterne-Hotels Altes Gymnasium dem hohen Besuch die Welt mal aus Sicht eines Genossen von der Basis zu erklären.

Im nördlichsten Bundesland herrschte Landtagswahlkampf, Thorsten Albig (SPD) lag vorn, doch Ilgen ging furchtlos ans Eingemachte, indem er Wahrheiten aussprach. Die unangenehmen. Zum Beispiel, dass die SPD sich unbedingt wieder mehr dem Mittelstand öffnen müsse, einer Wählergruppe, „die katastrophal brachliegen würde“. Und dass man das Steuerrecht für kleinere Einzelunternehmer gerechter gestalten müsse: „Es kann doch nicht angehen, dass Unternehmer, die mit ihrem ganzen Vermögen für die Firma haften, steuerlich schlechter gestellt sind als eine GmbH oder eine Aktiengesellschaft.“ Ilgen sprach wie immer sehr schnell, in klaren und kurzen Sätzen, mit nordischem Zungenschlag. Fast schon wie ein junger Steinbrück.

Vor ein paar Tagen haben sie sich in Berlin wiedergetroffen. Auf der konstituierenden Sitzung der SPD-Bundestagsfraktion. Denn Ilgen, der selbstständige Veranstaltungskaufmann aus dem Wahlkreis Dithmarschen-Nord, hatte es mit einem hauchdünnen Vorsprung von 0,16 Prozent der Stimmen geschafft, von Platz neun der Landesliste in den Reichstag zu hüpfen. Nach elf Jahren haben die Dithmarscher also endlich wieder einen aus ihren Reihen im Parlament. „Das ist enorm wichtig, besonders für die Parteistrukturen vor Ort. Mit einem Bundestagsbüro wird die Arbeit professioneller, da sie nicht mehr nur von ehrenamtlichen Kräften gestaltet werden muss“, sagt Ilgen.

Steinbrück erkannte ihn sofort wieder. Doch beim Betreten des Fraktionssaals wurde der Newcomer von Generalsekretärin Andrea Nahles abgefangen und in einen herzlichen Klammergriff genommen. Längst war nämlich schon durchgesickert, dass Matthias Ilgen nicht nur einer jüngsten Neu-Abgeordneten ist, sondern vermutlich auch der exotischste. Weil er in seiner Freizeit als Catcher in den Ring steigt, um nach einem ausgeklügelten Drehbuch muskelbepackte Gegner niederzumachen. Oder sich selbst verhauen zu lassen. „Im Ring“, seufzt Ilgen, „ist die Welt schön klar aufgeteilt, in Weiß und Schwarz, in Gut und Böse. Da kann ich mich hervorragend abreagieren und meine dunkle Seite ausleben – ungestraft.“ Es sei schon immer gern in andere Rollen geschlüpft. Und schließlich habe ja kein Geringerer als Helmut Schmidt einmal treffend bemerkt, dass Politiker doch bloß Staatsschauspieler seien. „Andrea Nahles schlug mir einen Trainingstag mit ihrer Juso-Gruppe aus Rheinland-Pfalz vor, in der sich zahlreiche Wrestling-Fans befinden würden“, sagt Ilgen, der im Ring als „Matthias Rüdiger Freiherr von Ilgen“ mit Umhang und Degen die Rolle des Fieslings verkörpert.

Er sieht bedauernd an sich hinunter. Seine Brustmuskulatur sei zwar noch nicht auf die Hüften gerutscht, aber 20 Kilo Speck seien dummerweise dazugekommen. Im Wahlkampf. Seit Januar habe er nicht mehr richtig trainieren können, sondern sei von Haustür zu Haustür gelatscht. Er habe Kärrnerarbeit verrichten müssen, denn vor allem in den Kögen um die Städte herum sei die Landbevölkerung ja ziemlich konservativ.

Jetzt tut es ihm sichtlich gut, mal wieder im Ring zu stehen und mit der unsympathischen Visage des „Freiherrn“ vor den Objektiven der Fernseh- und Fotokameras zu posieren, die sich im Nordic Fight Club an der Walddörferstraße in Hamburg versammelt haben. Es ist die ehemalige Trainingshalle des berühmten Universum-Boxstalls, in der einst die Klitschko-Brüder trainierten. Und Dariusz Michalczweski seine knallharte Linke in weltmeisterliche Form brachte. Jetzt betreibt Karsten Kretschmer, ein gedrungenes Kraftpaket von 38 Jahren, hier die einzige professionelle Catcherschule in Deutschland. Vor Stolz über seinen über Nacht prominent gewordenen Schüler platzt der Trainer beinahe aus seinem Sweatshirt. „Wir kämpfen hier den sogenannten strong style“, sagt Kretschmer, „das ist zu 90 Prozent körperliche Hochleistung, nur der Rest ist Schauspielerei. Matthias ist vielleicht nicht gerade der Supertechniker, aber er ist ein sehr intelligenter Kämpfer, der es versteht, die Technik in genau dem richtigen Moment einzusetzen.“

Ein Werbeplakat für einen Kampfabend hatte den pubertierenden Matthias vor 15 Jahren an diesen harten Sport herangeführt. Die Catcherszene ist relativ klein, er trainierte verbissen und seine Mutter sagte häufig „O Gott“, wenn er mit Blessuren nach Hause kam. Aber als der Sohn im Jahr 2007 an den deutschen Meisterschaften teilnahm – er schied frühzeitig aus – fing sie dann doch damit an, Zeitungsausschnitte zu sammeln. Zwei Jahre lang, von 2009 bis 2011, war Ilgen dann mit einem Partner sogar Europameister im „Tag-Team“. Dann treten vier Catcher in Zweiergruppen gegeneinander zum Match an.

Parallel zum Sport und einem Politikstudium (zunächst auf Lehramt) begann Ilgen, sich in der SPD zu engagieren. Er lebte damals in Billstedt und finanzierte sein Leben mit Aushilfsjobs in der Messe- und Veranstaltungsbranche. Was ihm so gut gefiel, dass er sich dazu entschloss, aufs Lehramt zu verzichten. „Ich wollte gestalten, was bewegen“, sagt Ilgen. Zum ersten Mal fiel er den hanseatischen Genossen auf, als er in Billstedt ein Job-Café für „Hartzer“ initiierte, die bei ihrer Arbeitssuche mentale Unterstützung benötigten. Bernd P. Holst, ein erfahrener Hamburger SPD-Bezirkspolitiker, wurde zu seinem Ziehvater. „Er ist bis heute mein politischer Mentor“, sagt Ilgen, „wir telefonieren viel, tauschen uns ständig aus.“ Holst wird ihm daher sicherlich geraten haben, auf der Hut zu sein. Aufzupassen, dass die außergewöhnliche Catcherstory nicht zu sehr in den Vordergrund rückt, damit sein politisches Profil ja nicht K. o. geht. Und so lässt der Neu-Abgeordnete sich an diesem Vormittag im Nordic Fight Club auch nicht dazu überreden, im dunkelblauen Anzug Reporter durch den Ring zu schleudern oder in den Würgegriff zu nehmen. Die arrogante Pose des „Freiherrn“ muss reichen.

Doch das Catchen war offenbar eine perfekte Vorbereitung für das Leben, das jetzt vor ihm liegt. „Im Ring und in der Politik muss man das Gefühl fürs richtige Timing beherrschen. Und dann, wenn alle denken, man sei am Boden, holt man zum Konter aus“, sagt er. Wobei man sich auch mal zum Deppen machen lassen müsse. Mit dieser Einstellung bringt Ilgen schon mal eine gute Voraussetzung für seinen neuen Job mit. „Ich will vor allem die Infrastruktur, die Bildung und die Energiewende in Schleswig-Holstein voranbringen“, verspricht er. Das sind keine leichten Aufgaben. Wann er wieder in den Ring steigen kann, ist daher höchst ungewiss.