Rollstuhlfahrerin stürzt auf Behindertenparkplatz in Ratzeburg. Dort liegt Kopfsteinpflaster. Stadt will nicht zahlen

Ratzeburg. Angelika Mincke ist viel unterwegs. Zwar ist die 55-Jährige seit 1985 querschnittsgelähmt, aber ihr umgebautes Auto macht sie mobil. Der Rollstuhl liegt auf der Beifahrerseite, sie hebt ihn über sich hinweg nach draußen und klappt ihn auf. Dann wechselt sie vom Fahrersitz in den Rollstuhl. Kraft und Geschick braucht man dafür, ebenso Übung. Alles Eigenschaften, die Angelika Mincke hat. Aber am 6. November 2009, es ist schon dunkel, geht es dennoch schief: in Ratzeburg, auf einem Behindertenparkplatz an der Straße mit dem sinnigen Namen „Demolierung“. Beim Umsetzen rutscht der Rollstuhl offenbar in eine Fuge zwischen den Kopfsteinen. Mincke fällt aufs Pflaster, ihr Fuß hängt noch im Wagen. Folge: ein Bruch knapp oberhalb des Fußgelenks. Rund vier Monate lang kann sie ihren Fuß nicht benutzen. An Fahrten mit dem Auto ist nicht zu denken. Der Fall zieht sich bis heute hin, jetzt soll sich das Verfassungsgericht damit befassen.

Angelika Mincke, die einen Verein für Behinderte gegründet hat, will Schmerzensgeld von der Stadt. Ein Behindertenparkplatz auf Kopfsteinpflaster: Schon der gesunde Menschenverstand sagt einem, dass das eine Schnapsidee ist. Wie soll man dort sicher aussteigen können, wie soll man sich dort im Rollstuhl fortbewegen können? Aber die Stadt Ratzeburg will die etwa 4500 Euro nicht zahlen. Mincke geht vor Gericht. Doch damit wird die Geschichte erst richtig schmerzhaft. Mincke, die von einer Erwerbsminderungsrente lebt, beantragt Prozesskostenhilfe. Der Antrag wird im Januar 2012 von der Zweiten Zivilkammer des Landgerichts Lübeck abgewiesen. Die Klage sei aussichtslos, weil das Kopfsteinpflaster des Parkplatzes für die Klägerin erkennbar gewesen sei. Durch den Wechsel vom Fahrersitz in den Rollstuhl auf diesem Untergrund sei sie „bewusst ein Risiko eingegangen, das sich dann zu ihrem Nachteil verwirklicht hat“.

Zum Thema Schmerzensgeld schreibt der Richter anschließend einen Satz nieder, der im besten Fall ein schlimmer Formulierungsunfall, im schlechtesten Fall aber eine klare Bösartigkeit ist. Ob die Klägerin Schmerzensgeldansprüche geltend machen könne, könne im Grundsatz offen bleiben, heißt es in dem Beschluss.

Und weiter: „Hier liegt zudem die Besonderheit vor, dass die Antragstellerin durch ihre Lähmung keine Schmerzen empfinden konnte. Die Nachteile einer mehrtägigen schmerzfreien Bettruhe wiegen jedoch für sich nicht so schwer, dass sie ein Schmerzensgeld rechtfertigen könnten.“

Mincke reicht dennoch Klage ein. Freunde helfen ihr mit Geld. Wieder ist die Zweite Zivilkammer des Landgerichts Lübeck zuständig. Der Richter urteilt – und das ist angesichts der Vorgeschichte wenig überraschend –, dass „nicht mit einer für eine Verurteilung ausreichenden Sicherheit festgestellt werden kann, dass die Klägerin aufgrund der Oberflächenbeschaffenheit des Behindertenparkplatzes zu Sturz gekommen ist“. Ob es Vorschriften für die Ausgestaltung von Behindertenparkplätzen gebe, die die Stadt Ratzeburg verletzt habe, müsse deshalb nicht geprüft werden. Ergebnis: kein Schmerzensgeld.

Mincke wechselt den Anwalt. Oliver Tolmein, der Gründer der Hamburger Kanzlei „Menschen und Rechte“, nimmt sich des Falles an. Er geht in die Berufung. Doch das Oberlandesgericht hält sich an die Argumentation des Landgerichts. Die Klägerin habe „um die Ungeeignetheit von Kopfsteinpflaster als Belag für Behindertenparkplätze“ gewusst. Mit diesem Wissen habe sich die „Gefährlichkeit dieses Belags für Aus- und Einstiege vom Pkw zum Rollstuhl und zurück“ aufdrängen müssen. Mit anderen Worten: Angelika Mincke ist selbst schuld.

Die gebürtige Hamburgerin, die früher in der Drogen- und Aidsberatung der Hansestadt gearbeitet hat, findet eine solche Argumentation „lächerlich“. „Es kann doch nicht sein, dass ich mich als Behinderter darüber informieren muss, ob ein Behindertenparkplatz sicher ist, bevor ich dort meinen Wagen abstelle“, sagt sie. Rückendeckung bekommt sie vom Vertreter des Schwerbehindertenbeauftragten des Landes Schleswig-Holstein. Dirk Mitzloff sagt: „Ich hätte erwartet, dass sich die Richter in die Situation eines Rollstuhlfahrers hineinversetzen können, aber ich habe den Eindruck, dass das in diesem Fall nicht gelungen ist.“ Die Regel sei dies gewiss nicht: „Ich kenne da sehr sensible Urteile.“ Klar sei, dass Kopfsteinpflaster als Untergrund für einen Behindertenparkplatz absolut ungeeignet sei. DIN-Normen für Verkehrsflächen im öffentlichen Raum schrieben feste und ebene Oberflächen vor. „Die Stadt Ratzeburg muss diesen Behindertenparkplatz aufheben oder für die Benutzung sperren“, sagt Mitzloff. Eigentlich müsse die Bauaufsicht einschreiten. Warum das bisher nicht geschehen sei, wisse er nicht.

Die Stadt Ratzeburg hüllt sich derweil in Schweigen. Ein Anruf in der Stadtverwaltung mit der Bitte um eine Stellungnahme bleibt ohne Antwort. Es handle sich um ein schwebendes Verfahren, lautet die lapidare Antwort. An der Straße Demolierung gibt es den Parkplatz, der so gefährlich ist, dass man besser nicht auf ihm parkt, immer noch. Angelika Mincke meidet ihn, meidet eigentlich die Stadt insgesamt. Zu viel Kopfsteinpflaster, und das Ortszentrum liegt auf einem schwer erklimmbaren Hügel über dem Ratzeburger See.

„Für Querschnittsgelähmte ist Ratzeburg nix“, sagt Mincke. Das heißt aber nicht, dass sie aufgibt. Ihr Rechtsanwalt ebenfalls nicht. Er hat jetzt Verfassungsbeschwerde eingelegt, will, dass sich das Verfassungsgericht das Mincke-Urteil ansieht. „Die Justiz ist mit diesem Fall vollkommen inadäquat umgegangen“, sagt der Spezialist für Behindertenrecht. Er sieht in dem Urteil unter anderem ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot für Behinderte, ein im Grundgesetz festgeschriebenes Grundrecht. „Frau Mincke muss sich nun offenbar persönlich davon überzeugen, dass ein Behindertenparkplatz sicher ist, bevor sie den Wagen abstellen kann. Das sind Anforderungen, die sie ganz konkret benachteiligen.“ Sollte Tolmein mit der Beschwerde Erfolg haben, müsste sich das Oberlandesgericht erneut mit dem Fall beschäftigen. Es bekäme die Chance, zu einem einfühlsameren Urteil zu gelangen.