Die Weltenbrecher aus Lüneburg sind ausschließlich Schauspieler mit Behinderung. Am Donnerstag starten sie beim Festival in Paderborn

Lüneburg. Heute ist David der Normale. Der junge Mann ist Mitte 20, mittelgroß, mittelschlank, hat mittelbraune Haare und eine mittelstarke Brille, sitzt auf einem Hocker und ist ganz ruhig. „Normal!“, ruft Susanne hinter ihm und wirft kraftvoll die Arme auseinander. Franziska fasst entzückt seine Hand, „normale Hände!“, packt begeistert seine Nase, „normale Nase!“, fingert lächelnd über seinem Kopf: „Normale Gedanken!“ Wer hier welche Rolle spielt, den Normalen oder die Bewunderer, ist völlig egal. Und Erklärungen sind überflüssig.

Es ist schon verrückt, dieses Wort. Normal. Wer die Szene des Theaterstücks der Lebenshilfe Lüneburg-Harburg sieht, spürt das nach wenigen Augenblicken. Normal ist eines der leersten Wörter, die das Deutsche zu bieten hat. Weil es keine Essenz besitzt.

Die Szene spielt die Theatergruppe Weltenbrecher am 4. Juli auf der Bühne der Theatertage europäischer Kulturen in Paderborn. Ausgerufen vom Bund deutscher Amateurtheater mit rund 100.000 Mitgliedern, kommen Gruppen aus Kroatien, Israel, Österreich, Georgien, Russland und Marokko nach Westfalen – und aus Lüneburg.

Es ist das erste Mal, dass dort Schauspieler auf die Bühne treten, die eine Behinderung haben. Bisher gab es Festivals für Amateurtheatergruppen und Festivals für Theatergruppen aus Einrichtungen wie der Lebenshilfe. Stefan Schliephake hat sich mit seiner Truppe wie jede andere auch beworben. „Wir machen ja Theater fürs Publikum“, sagt der Sozialpädagoge, der die Gruppe 2006 ins Leben gerufen hat. „Da ist es doch zeitgemäß, wenn wir einmal auf Augenhöhe mit anderen auftreten.“

Das Publikum, das wird seine Sehgewohnheiten ändern, wenn es David Zimmermann, Susanne Kracht, Franziska Schumacher und die anderen sieht. Stefan Schliephake hat schon oft beobachtet, was in den Reihen vor der Bühne passiert, wenn die Weltenbrecher spielen. „Die ersten 15 Minuten sind die meisten verkrampft. Sie wissen nicht, ob sie lachen dürfen, ob sie überhaupt genau hingucken dürfen.“ Denn das haben wir alle seit unserer Kindheit trainiert: nicht glotzen und schon gar nicht lachen, wenn wir einen Menschen mit einer Behinderung sehen.

Das erzeugt Parallelwelten. Welten, die sich kaum begegnen. Weil die eine am Stadtrand lebt und mit Fahrdiensten statt Bussen ihre Wege zurücklegt. Weil die andere wegsieht. Welten, die nicht auf Augenhöhe sind. Von denen die eine kaum etwas weiß von der anderen. Und schon gar nicht, was sie fühlt.

Im Theater ist das anders. „Wo der Pfeffer wächst“, haben die Lüneburger ihr Stück getauft. Es handelt von Lebensträumen, Wünschen: dem Traum, in eigenen vier Wänden zu wohnen, gutes Geld zu verdienen, Sexualität und Partnerschaft zu leben, Kinder großzuziehen – und Leute, die nerven, einfach mal dorthin schicken zu können, wo der Pfeffer wächst.

„Da merken die Menschen im Publikum: Die haben ja ganz ähnliche Träume wie ich“, sagt Theaterpädagoge Schliephake. „Die sind mir ja viel näher als fremd.“ Eine Aufführung macht es Menschen ohne Behinderung leichter, Menschen mit Behinderung zu begegnen. Sie trauen sich eher, ein Gespräch mit den vermeintlich Anderen anzufangen. Vielleicht, weil sie wissen worüber: das Stück, die Szenen, die Rollen.

Franziska, Susanne und die anderen Frauen kommen hinter dem schwarzen Probenvorhang raus. Sie achten auf jeden Schritt, darauf, dass sie ihn nicht zu schnell machen. In den Händen halten sie dicke Ordner, reißen Seiten raus, zerknüllen sie und werfen sie weg. Als würden sie schlechte Erinnerungen loswerden wollen.

Dann kommen die Männer. Schweigen. Was sie sagen, läuft vom Tonband ab. Als hätten sie die Leier schon ewig abgespult: Ich hab dich verlassen, weil ... Franziskas Alter Ego kann die Sprüche nicht mehr hören: Sie schimpft, stampft mit ihren Füßen auf den Boden, dreht sich weg.

Nach der Probe sagt Franziska Schumacher (23), ihre Ex-Männer gehen ihr auf die Nerven. „Die haben schlecht über mich geredet. Jetzt kann ich meinen Senf dazugeben. Auf der Bühne darf ich auch mal Schimpfwörter in den Mund nehmen, kann das loswerden.“ Franziska Schumacher hat Epilepsie und eine Lernschwäche, sie lebt in einer Wohngemeinschaft und arbeitet am Empfang der Lebenshilfe.

Susanne Kracht (61) hofft, dass ihr Mann ihrer Rolle genau zuhört. Denn die ruft ins Publikum: „Mein Traummann fährt mit mir nach Feierabend nach Hamburg an die Landungsbrücken, um einen Kaffee zu trinken.“ Susanne Kracht hat eine Spastik, sie lebt mit ihrem Mann in einer Wohnung und arbeitet im Bereich Kiosk und Küche.

Was die Protagonisten sich wünschen, das ist gar nicht so anders als das, was sich andere wünschen. Andere, die kein Handicap haben, das gemeinhin als solches gilt. „Die Lebensträume sind dieselben, das macht unser Theaterstück ganz deutlich“, sagt Schliephake. „Nur die strukturellen Möglichkeiten, sie zu erfüllen, sind es nicht.“

Er selbst hat übrigens auch einen Traum: Dass es in Paderborn so weit wie möglich um das geht, was seine Truppe bietet: Theater. Und nicht um eine einzelne von vielen Eigenschaften seiner Schauspieler.