Ladung mit ägyptischen Antiquitäten ging 1822 in der Elbmündung unter. Zwei Männer suchen seit Jahrzehnten nach ihr

Es ist ein Orkan, wie ihn das Jahrhundert noch nicht erlebt hat. "Einer wie bei der großen Sturmflut von 1962, aber noch fünf Grad nördlicher. Einer vom skandinavischen Typ", sagt Rainer Leive. "Solche Orkane halten sehr lange an. Meist über mehrere Tiden." Leive, 68 Jahre alt, ist ein Mann, der viel weiß über Stürme. Insbesondere über diesen speziellen, der in der Nacht zum 12. März 1822 über der Deutschen Bucht wütet. Draußen auf dem aufgewühlten Meer: der Frachtsegler "Gottfried" auf seinem Weg von Triest nach Hamburg. Der Zweimaster wird die Hansestadt nie erreichen. In der Elbmündung kommt Kapitän Heinrich Jacob Riesbeck vom Kurs ab. Das Schiff läuft auf Grund und kentert. Bis auf einen ertrinken alle Männer an Bord.

Es wäre ein Unglück gewesen wie viele andere, ganz und gar nichts Ungewöhnliches in jener Zeit, hätte die "Gottfried" nicht eine so kostbare Fracht an Bord gehabt. Tatsächlich versinkt in der Nacht eine komplette Schiffsladung ägyptischer Kunstschätze im Wattenmeer und ist bis zum heutigen Tage nahezu komplett verschwunden.

Der Kunstschatz in der Elbmündung - zwei Männer, inzwischen ältere Herren, haben es sich schon vor Jahrzehnten zur Lebensaufgabe gemacht, ihn aufzuspüren und heben zu lassen. Rainer Leive, der Mann, der so viel über Stürme weiß, ist einer von ihnen. Joachim Karig, 79, promovierter Ägyptologe, der andere. Eher zufällig haben sich ihre Wege vor mehr als 30 Jahren im Staatsarchiv Stade gekreuzt. Leive widmete sich gerade seinem großen Hobby, der Hochwasser- und Deichbauforschung; Karig, seinerzeit in Diensten des Ägyptischen Museums Berlin, war schon damals auf der Suche nach der "Gottfried". Seit diesem Tag machen der Autodidakt und der Wissenschaftler gemeinsame Sache.

Gut 189 Jahre nach der Havarie der "Gottfried" stehen die beiden Männer, ausgerüstet mit Seekarten, im Wattenmeer vor Cuxhaven. Das Wasser ist an diesem Frühlingstag im Jahr 2011 spiegelblank, der Himmel zeigt sich in tiefstem Blau. Hier, irgendwo im Umkreis ihres Standortes, müssen die Schätze verborgen sein. Zu dieser Überzeugung ist Rainer Leive nach gründlicher Recherche gelangt. Der Ortstermin in der Elbmündung ist der Höhepunkt der bisherigen Arbeit der beiden Männer. Mit dabei: der Filmproduzent Friedrich Steinhardt und der Regisseur Robert Schotter. Über viele Jahre haben Leive und Karig im Verborgenen geforscht, die Öffentlichkeit gemieden. Nun erzählen sie ihre Geschichte; der Film mit dem Titel "Geisterschiff im Wattenmeer" wird an diesem Sonntag in der ZDF-Dokureihe "Terra X" ausgestrahlt.

Um es vorweg zu nehmen: Gefunden haben Leive und Karig nichts, das auch nur im Geringsten auf die Existenz der "Gottfried" geschweige denn auf die ägyptischer Kunstgegenstände hinweisen würde. Ein Mythos ist die Geschichte von dem schwer mit Schätzen beladenen Segler dennoch nicht. "An Bord waren ein Sarkophag aus Granit, 97 Kisten, darin Stelen, 100 steinerne Gefäße, ein Stein in Pyramidenform, Reliefs und antike griechische Gefäße", sagt Joachim Karig. "Und acht Mumien."

Es sind Teile jener Sammlung, die der preußische Offizier Heinrich Menu von Minutoli (1772-1846) im Jahr 1821 während einer mehrmonatigen Expedition nach Ägypten teils selbst birgt, teils ankauft. "Er hat diese Privatsammlung von seinem eigenen Geld erworben", sagt Joachim Karig. König Friedrich Wilhelm III. habe Minutoli versprochen, die Gegenstände gegebenenfalls anzukaufen - als Grundstock für ein Ägyptisches Museum in Berlin. Einkaufen in Ägypten, "in der damaligen Zeit war das einfach Usus", sagt Joachim Karig, der Minutoli als "Autodidakt, der sich ein enormes Wissen angehäuft hat", bezeichnet. "Er war kein Ägyptologe, die Ägyptologie als Wissenschaft gab es noch gar nicht. Aber er hat das preußische Königshaus derart interessiert, informiert, ja infiziert, dass bald der erste Lehrstuhl für Ägyptologie an der heutigen Humboldt-Universität eingerichtet worden ist."

"Er hat Erstaunliches geleistet", sagt auch die heutige Direktorin des Ägyptischen Museums in Berlin, Prof. Friederike Seyfried, "man darf Minutoli nicht als Abenteurer abtun, sondern muss seine wissenschaftlichen Ansätze sehen." Das Museum widmet dem General eine Vitrine, darin auch Fundstücke aus der 1821er-Expedition. Denn nicht alle Fundstücke sind verschollen.

Auf der Rückreise von Ägypten muss das Expeditionsteam in Triest mehrere Wochen in Quarantäne, weil in Alexandria die Pest ausgebrochen ist. Heinrich Menu von Minutoli teilt seine Sammlung. Der eine - kleinere - Teil geht auf dem Landweg nach Berlin. Er wird zum Grundstock der Sammlung des heutigen Ägyptischen Museums. Auch Minutoli selbst reist auf dem Landweg zurück nach Berlin. Der weitaus größere Teil seiner Sammlung wird auf die "Gottfried" verladen. Der Frachtsegler verlässt den Hafen von Triest im Dezember 1821. Dass das Schiff die Elbmündung erreicht, gilt als sicher. In Archiven hat Rainer Leive Unfallmeldungen gefunden. "Es war bekannt, dass eventuell Mumien an Bord waren, sogenannte pestfangende Gegenstände. Insofern war das kein ganz normaler Unfall." Ein Teil der Ladung, das haben Leive und Joachim Karig recherchiert, taucht kurz nach der Havarie auf, darunter auch die Mumien - als Treibgut am linken Elbufer nahe der Mündung. Am 4. September 1822 versteigert ein Hamburger Kunstmakler die Fundstücke.

Damit verliert sich ihre Spur für immer. "Wir wissen leider nicht, wer die Mumien gekauft hat", sagt Joachim Karig. "Damals ist darüber noch nicht so richtig Buch geführt worden." Dass sie erworben worden sind, um sie für die Nachwelt zu erhalten und auszustellen, scheint zumindest zweifelhaft. Mumien waren seinerzeit aus vielerlei Gründen begehrt. Zum Beispiel zermahlen, als Heilmittel. "Mumia Vera ist noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts verkauft worden", sagt Joachim Karig. "Es stand in den Apotheken. Ein schwarzes Pulver." Und die renommierte Hamburger Ägyptologin Renate Germer beschreibt gegenüber dem ZDF eine besonders makabere Verwendung: "Es gibt die Fälle, dass man seine Freunde zu einem Dinner einlud, und anschließend gab es dann das Auswickeln einer Mumie als besondere Veranstaltung."

Die bis heute einzigen erhaltenen Fundstücke, die nachweislich aus dem Frachtraum der "Gottfried" stammen, sind vor knapp zehn Jahren zufällig im Museum für Hamburgische Geschichte entdeckt worden: eine Mumienbinde und eine Mumienlocke in einem Kuvert. Aufschrift: "(...) bey Neuhaus an Land getrieben aus dem dort gestrandeten Schiffe - in Freyburg mitgenommen d. 5t. April 1822."

Im Schlick tief in der Elbmündung aber könnten eben noch Schätze verborgen liegen. "Der Sarkophag aus Granit sollte, wenn er nicht von Muscheln überwachsen ist, noch unbeschädigt sein", meint Joachim Karig. Auch Steingefäße aus Alabasta könnten noch unversehrt sein. Kalksteinerne Ladungsstücke könnten sich dagegen aufgelöst haben, sagt er.

Rainer Leive hat viel getan, um den Ort möglichst genau zu lokalisieren, an dem die Gegenstände liegen könnten. "Ich habe das Wetter, die Gezeiten, die Strömungen und die Veränderung der Sande berücksichtigt", sagt er. Anhand der Wetterdaten vom 11. und 12. März im gesamten Nordseeraum hat er eine Seewetterkarte erstellt, außerdem andere Unfallberichte ausgewertet. Ein Gutachter hat ihm "Akribie und saubere Recherche" attestiert.

Mit seinen Daten im Gepäck gehen Joachim Karig und er am 24. Juni 2010 an Bord der "Ludwig Prandtl" - dem Forschungsschiff des Instituts für Küstenforschung am Helmholtz-Zentrum in Geesthacht. Dort erproben Wissenschaftler gerade ein neues, sogenanntes 3D-Sediment-Echolot, ein Gerät, das Schallwellen aussendet und dadurch einen "Einblick in den Meeresboden" zulässt. Eine günstige Mitfahrgelegenheit also für die beiden Schatzsucher. "Die Fragestellung lautete, ob sich vielleicht Strukturen der Ladung im Untergrund finden lassen", sagt Torsten Fischer, Sprecher des Helmholtz-Zentrums. Tatsächlich zeigt das Echolot Auffälligkeiten in dem Gebiet. Knapp ein Jahr später, am 25. Mai 2011, fahren Leive und Karig erneut mit der "Ludwig Prandtl" hinaus in die Elbmündung. Diesmal will die Schiffsbesatzung die Fundstellen genauer untersuchen. Aber sie findet nichts...

Werden die Männer jemals etwas finden? "Es gibt reelle Chancen", sagt der 79-jährige Joachim Karig. "Die technischen Möglichkeiten sind enorm, und sie werden immer besser." Die Suche nach der Ladung sei wie die Jagd nach einem Phantom. "Wir hoffen immer noch, es wirklich einmal packen zu können."

Für das Archäologische Landesamt Schleswig-Holsteins ist der Fall auch noch nicht abgeschlossen, wenngleich es konkret keine weiteren Suchfahrten geben werde, wie der für Unterwasserarchäologie zuständige Gebietsdezernent Martin Segschneider sagt. "Den Einsatz, den diese beiden älteren Herren über Jahrzehnte gezeigt haben, den kann man nicht hoch genug bewerten."

Die Behörden in Schleswig-Holstein haben jedenfalls schon ein Auge auf den noch verborgenen Schatz geworfen. Martin Segschneider betont, dass eventuelle Fundstücke dem Bundesland gehören würden. Das regele das Denkmalschutzgesetz Schleswig-Holsteins, denn der mutmaßliche Fundort liege auf dem Hoheitsgebiet des Landes.

Die TV-Dokumentation "Geisterschiff im Wattenmeer" von Robert Schotter und Friedrich Steinhardt in der Reihe "Terra X" wird an diesem Sonntag um 19.30 Uhr im ZDF ausgestrahlt