Der Ort am Rande der Holsteinischen Schweiz hat 500 Einwohner und wirbt mit ländlicher Idylle um Touristen

Berlin. Berlin ohne U-Bahn, ohne Großstadtlärm, mit einem Bruchteil der Einwohner - das ist keine Vision, sondern Wirklichkeit in Schleswig-Holstein. Hier wird der von Hauptstädtern gern gesagte Spruch "Berlin is'n Dorf" wahr: Ein Ort in der Gemeinde Seedorf am Rande der Holsteinischen Schweiz, umgeben von Wiesen und Feldern, hat rund 500 Einwohner, wenige Straßenzüge, vor allem Einfamilienhäuser, gepflegte Gärten und viel Hundegebell. Und heißt genauso wie die Metropole an der Spree: Berlin. Da kommt es schon zu Verwechslungen.

"Einmal hat sich ein Autofahrer zu uns verfahren, der in die Hauptstadt wollte", erzählt Horst Schramm, 64, Bürgermeister des kleinen Berlin und hier geboren, bei einem Rundgang durchs Dorf. Der Mann habe wohl Berlin in sein Navigationsgerät eingegeben und sich gewundert, wo er landete. "Das war ein Bayer. Kein Witz, das stimmt wirklich. Aber das war sicher Zufall", grinst Schramm. Auch Briefe seien mehrfach ins falsche Berlin geschickt worden. Denn auch viele Straßennamen sind gleich. Im Dorf wurden sie von Bewohnern, die zur Kaiserzeit im Berliner Regiment gedient hatten, so benannt, wird erzählt. "Das hier ist unser Potsdamer Platz", sagt der Bürgermeister und zeigt auf eine Grünfläche an der Straße. Gläserne Häusertürme? Fehlanzeige. Dafür Geschichtsbewusstsein wie in der Hauptstadt. Am Rand erinnert ein Gedenkstein an den Polizeibeamten Wilhelm Krützfeld. Er stammt aus Seedorf und bewahrte die Neue Synagoge in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 in der Hauptstadt vor der Zerstörung. "Ein mutiger Mann", findet Schramm.

Das Dorf hat noch mehr zu bieten. Bei großzügiger Betrachtung kann es mit dem großen Berlin durchaus mithalten, meint der Bürgermeister schmunzelnd. Kultur? Sicher. Es gibt den Kunsthof, ein Haus mit bunten Gemälden an der Hauswand. Bärbel Raschke, 45, betreibt von hier einen Handel mit Kunstwerken. Dafür ist sie zu Auktionen quer durch Deutschland unterwegs. Daneben bewegt sie sich vor allem in den Weiten der virtuellen Welt: "Es läuft sehr viel übers Internet."

Vom Kunsthof sind es wenige Minuten bis zur Straße Unter den Linden und ein bisschen Multikulti-Flair. Hier ist ein portugiesisches Restaurant. "Jeder hier kennt mich - und mag mich, denke ich", sagt der Betreiber, der Portugiese José Neto, 41, und lacht. Er lebt seit etwa zwei Jahren in Berlin und hat Spaß daran, Gästen die Küche seiner Heimat näherzubringen. Quer über die Straße das kulinarische Kontrastprogramm: eine Berliner Imbissbude, natürlich mit Currywurst. Dann gibt es noch ein Café, eine Tankstelle, einen Friseur, Bootsbauer und Supermarkt. Schramm nennt ihn KaDeWe. Das war es dann fast an Infrastruktur. Kein Vergleich zum großen Berlin.

Der Fahrplan an der Bushaltestelle ist extrem übersichtlich. Sonn- und feiertags fährt kein Bus. Früher gab es eine Telefonzelle. "Aber die wurde Silvester mal in die Luft gejagt", erzählt Schramm. Und sonst? Kneipenszene? Shoppen gehen? "Hier ist eigentlich nichts los", sagt Sascha Mester, 32, der im Dorf aufgewachsen ist und vor Kurzem mit seiner Frau Katrin, 30, und Kind an den Kurfürstendamm gezogen ist. Gerade die Ruhe und Gemütlichkeit sind aus seiner Sicht ein Pluspunkt gegenüber der Stadt.

"Es gibt keine Hektik. Wir verstehen uns gut mit den Nachbarn, man hilft sich. Hunde sind kein Problem. Das ist alles unkompliziert", sagt er. Katrin Mester erzählt: "Wir wollten, dass unser Kind auf dem Land groß wird und viel Kontakt zum Opa hat. Das ist toll hier." Auch der Bürgermeister lobt die Dorfgemeinschaft, die aber auch eine besondere Nähe mit sich bringt: "Wenn wir morgens um 10 Uhr die Rollos nicht hoch haben, werden die Nachbarn unruhig", sagt Schramm.

Hannelore Hey, 59, Inhaberin des "KaDeWe", hat in den 70er-Jahren im Berlin an der Spree gewohnt. "Das war sehr wild, sehr aufregend", erinnert sich die Betriebswirtin. Sie betreibt noch eines der wenigen Geschäfte im Ort. Schlachter, Bäcker, Schmied, Bauunternehmer, mehrere Landwirte hätten dagegen im Laufe der Jahre aufgegeben, sagt Schramm. Trotzdem entwickele sich der Ort weiter. Die Einwohnerzahl steige leicht. Neue Baugrundstücke seien fast alle schnell verkauft worden.

Außerdem setzt die Region auf einen neuen Wirtschaftszweig: Tourismus. Ländliche Idylle, zwei Seen in der Nähe, die Ostsee nicht weit - das lockt Urlauber an. Manche kommen auch wegen eines besonderen Angebots ins Dorf, erzählt Schramm. Es gibt hier Stutenmilch für Gesundheits- und Schönheitskuren. Aber der größte Trumpf des kleinen Berlin bleibt vielleicht der Name. "Das finden viele einfach witzig", sagt Hannelore Hey.

Im Jahr 1215 wurde der Ort Berlin in Schleswig-Holstein das erste Mal erwähnt. Er ist damit etwas älter als die Hauptstadt und sei wohl nach dem Fürsten Berolin benannt worden, sagt Schramm. Nur einen Haken hat der Name heute: "Die Ortsschilder finden viele so kultig, dass sie oft geklaut werden", bedauert der Bürgermeister. Nur Schilder der Nachbardörfer "Weitewelt" und "Hölle" seien noch begehrter.