Preisverdächtig: Ein ganzes Dorf hat geholfen, die zum Abwassergraben verkommene Billerbeck zu renaturieren

Melbeck. Für den Besuch der Jury hat Burkhard Jäkel nichts vorbereitet. Kein Unkraut gezupft, keinen Rasen gemäht, keinen Fisch und keinen Frosch fotowirksam in Szene gesetzt. Der Naturschützer des Landkreises Lüneburg zeigt den Gewässerfachleuten aus ganz Niedersachsen einfach nur, was da ist, zehn Kilometer südlich von Lüneburg: ein kurviger, quicklebendiger Bach, wo 2008 ein schnurgerader, toter Graben war. Dieser Bach könnte dem Naturschützer-Team aus Lüneburg und Melbeck im Oktober eine Auszeichnung verschaffen: die "Bachperle" des niedersächsischen Gewässerwettbewerbs.

Ausgerufen von der Kommunalen Umweltaktion in Hannover, die das Wortungetüm der "Europäischen Wasserrahmenrichtlinie" in das praktische Leben der Menschen transportieren will, sucht die Jury des landesweiten Wettbewerbs "Bach im Fluss" nach herausragenden Projekten von Kommunen und Vereinen, die Bäche zum Fließen bringen - oder eben aus Gräben Bäche machen.

"Bäche sind Wanderrouten für zahlreiche Fischarten und vernetzen unseren Bach vor der Haustür mit den großen Flüssen im Land und letztlich mit dem Meer", sagt Katrin Flasche, Ausrichterin des öffentlichkeitswirksamen Wettbewerbs, den das niedersächsische Umweltministerium 2010 ins Leben gerufen hat und an dessen Ende die Verleihung einer Silberperle auf einem stilisierten Flussbett aus Kupfer steht. Und dessen Ziel es ist, die präsentierten Projekte zum Vorbild für Nachahmer zu machen.

Was die promovierte Ingenieurin und das runde Dutzend Gutachter der Jury an diesem Morgen in Melbeck von Burkhard Jäkel gezeigt bekommen, das war vor vielen Jahren mehr Abflussrinne für Chemikalien aus dem nahen Industriegebiet denn Bach. "Hier war tote Hose", sagt frank und frei Carsten Fuhrhop, dem ein Teil der Fläche gehört.

Der Fläche, auf der die Billerbeck nach viel Einsatz und 55 000 Euro Investitionen gut 200 Meter länger mäandriert als noch vor vier Jahren - weil Naturschützer ihr ein neues Bett gebaut haben. Wo heute ein Teich an der Erdoberfläche atmet und keine Drainagen in einem Meter Tiefe die Erde entwässern. Wo die Natur Erlen gesät hat für den künftigen Auenwald - einen der seltensten Waldtypen in Deutschland überhaupt.

Und wo Mensch und Maschinen bestandsbedrohten Arten ihren Lebensraum zurückgeben, den sie ihnen in den vergangenen Jahrzehnten genommen hatten. Denn einen artenreicheren Lebensraum als ein Gewässer und seine Auen gibt es nicht.

Tatkräftig dabei geholfen hat die Jugendfeuerwehr der Gemeinde, und auch ohne die Sensibilität des Baggerfahrers wäre die Billerbeck heute in ihrem Lauf weit weniger interessant - Experten sprechen da vom "Mikrorelief des Flussbetts". Auch andere Stichworte, die der Jury wichtig sind, können Burkhard Jäkel und Kollegen mit einem Haken versehen: Stromstrich, die Substratsortierung, die Tiefen- und die Breitenvarianz, die Sekundäraue und den Prall- und Gleithang.

Haben die meisten im Dorf davon wohl nur eine vage Ahnung, freut sich laut Nachbar Bernd Wagner mittlerweile der ganze gut 3300 Einwohner zählende Ort über sein neues Naturschutzgebiet. "Es gab am Anfang welche, die meinten: Was soll der Quatsch? Aber die sind verstummt. Das ganze Dorf ist stolz auf das Projekt." Und Wagner kann von seiner Terrasse fast jeden Tag Radler und Spaziergänger beobachten, die die neue Billerbeck vom kleinen Aussichtshügel betrachten - und "mit unglaublicher Geduld die Informationstafeln lesen".

Sie sehen sich Bilder an von der früheren Brachfläche, machen sich schlau über die ins Amphibienparadies zurückgekehrten bedrohten Arten, vom Braunkehlchen über den "Fisch des Jahres 2012", das Bachneunauge, bis zur Sumpfdotterblume. "Und all die Eisvögel!", ruft jemand, als Burkhard Jäkel ihn in der Aufzählung der regelmäßigen Bewohner und Besucher des Neubaubiotops vergisst. Hoffnung haben die Naturschützer auch in Bezug auf die streng geschützte Bachmuschel: Denn sie verbringt ihre Jugend in kleinen Fließgewässern, bevor sie weiterzieht in die größeren.

Drei Stunden hatte es gedauert, bis die alte Billerbeck vor rund einem Jahr erstmals den Weg durch ihren Neubau gefunden hatte - und auf dem patschnassen Grün mitgefiebert haben damals nicht nur Naturschützer, sondern auch die Dorfbewohner. Ein Projekt des ganzen Ortes sei der neue Bach, sagt Grundstückseigentümer Fuhrhop - und gibt den Besuchern einen Auftrag mit auf den Weg: der Melbecker Billerbeck eine "gute Bewertung" zu geben.

Insgesamt 13 Bäche haben die Mitglieder der Jury in dieser Woche zwischen Bruchhausen-Vilsen, Braunschweig-Bienrode-Waggum, Bergen-Lohheide, Salzgitter-Barum und Bückeburg-Evesen bereist, Melbeck war ihre nördlichste Station. Ziel der dreitägigen Tour: Faszination und Verständnis dafür zu wecken, welche Bedeutung Fließgewässer für das Ökosystem haben. Verliehen wird die "Niedersächsische Bachperle" am 8. Oktober in Hannover.