Der Zwölfjährige erhielt an der Medizinischen Hochschule Hannover eine Lebendspende. Jetzt blickt die Familie optimistisch in die Zukunft.

Hannover. Der elfjährige Marius aus dem Sauerland ist todkrank, als er ausgerechnet am Freitag, 13. April 2012, in die Medizinische Hochschule Hannover (MHH) geflogen wird. Und dann wird es doch sein Glückstag, denn unter dem Eindruck akuter Lebensgefahr durch Mukoviszidose entscheidet sich das Team um Deutschlands bekanntesten Transplantationschirurgen Prof. Axel Haverich, Neuland zu betreten. Am 26. April nach gründlichen Vorbereitungen - Marius lebt nur noch in Narkose dank Herz-Lungen-Maschine, befindet sich nach Haverichs Einschätzung "bereits zwischen Himmel und Erde" - finden zeitgleich drei Operationen statt. Mutter Anja und Vater Lars spenden jeweils einen von jeweils fünf Lungenlappen. Sechs Stunden dauert es, ehe fast 40 Chirurgen die alte kranke Lunge von Marius entfernt und die neuen Organe implantiert haben.

+++ Lungen-Transplantation von lebenden Spendern geglückt +++

Vor einigen Wochen war Marius in Hannover bereits im Stadion, hat seinen Verein FC Schalke erstmals in seinem Leben aus voller Kehle und lauthals anfeuern können. Dass es am Ende nur ein Unentschieden gab für die Ruhrpottkicker, wird seine guten Erinnerungen an Hannover kaum trüben. Gestern saß Marius im Trikot von Schalke samt Eltern und kleiner Schwester Nele in der MHH, umgeben von Ärzten. Er atmete unter seinem Mundschutz tief durch und machte dann klar, dass er weiß, wie knapp es war: "Ich bin vor allem stolz auf meine Eltern."

Diese haben spätestens im Oktober 2011 bei einer ersten lebensgefährlichen Situation begriffen, dass es nicht wie bis dahin weitergehen konnte. Das Inhalieren - zweimal anderthalb Stunden täglich - half immer weniger. Und ihr Sohn stand auf der Warteliste für eine Organspende, aber nie passten die medizinischen Daten: "Wir haben gewartet, aber das Telefon hat nicht geklingelt." Da haben sie sich in ihrer Not im Internet schlaugemacht über Lebendlungenspenden, die zwar in Japan und Südkorea häufiger vorgenommen werden, an die sich in Deutschland aber noch kein Ärzteteam herangewagt hatte. Für Mutter Anja war ganz bald klar: "Das ist genau unser Ding." Als dann am 13. April Eltern und Ärzte am Bett des sterbenskranken Jungen standen und die Mediziner den Vorschlag machten, es zu versuchen, waren die Eltern schon weiter. Die ausführlichen Besprechungen mit den Fachärzten in den folgenden Tagen, die Beratungen mit der Ethikkommission haben sie mehr routiniert als engagiert absolviert, erzählte gestern Mutter Anja: "Das war für uns eine Woche Pflichtprogramm, unsere Entscheidung ist schon im Oktober davor gefallen."

+++ Lebendspenden +++

Was die Eltern nicht sagen, daran erinnerte einer der leitenden Chirurgen. Es galt schließlich angesichts der Risiken der eigenen Operationen für den Fall von tödlichen Komplikationen für die achtjährige Nele Vorsorge zu treffen: "Ich stelle mir die Situation der Eltern in diesem Moment schrecklich vor, für mich sind das Helden." Auf alle Fälle Menschen mit starken Nerven. Im Vorfeld der Operationen stellte sich nämlich heraus, dass die sportliche Mutter einen Herzfehler hatte, von dem sie bis dahin nichts gemerkt hatte. Der Herzfehler wurde dann bei der Entnahme des Lungenlappens gleich mitoperiert, Mutter Anja tut das ab wie eine Lappalie: "Gott sei Dank konnte das in einem Aufwasch mit erledigt werden." Und ganz nebenbei, so erläuterte es gestern der Mediziner, hat die Familie auch ihre wirtschaftliche Existenz aufs Spiel gesetzt. Zwar zahlen die Krankenkassen die aufwendige Operation, aber bei einer Folgeerkankung der Eltern gibt es keinen Verdienstausfall.

In diesem Fall scheint alles gut zu gehen, weder bei den Eltern noch bei Marius, der etwa 30 Tabletten täglich nehmen muss, sind bislang ernsthafte Probleme aufgetreten. "Aber es werden bald weniger", sagt Marius und guckt fragend rüber zu Prof. Haverich und den anderen Ärzten. Die bestätigen mit einem Nicken: So soll es kommen.

Fahrradfahren - das hat Marius vor der Operation gehasst. Er konnte weder mit den Eltern noch mit der kleinen Schwester mithalten und platzt nun fast vor Stolz: "Ich schaffe glatt 20 Kilometer am Stück." Und wenn die Lungenlappen mitwachsen, worauf Prof. Haverich setzt, wird es selbst im schroffen Sauerland künftig keine unüberwindbaren Hindernisse mehr geben: "Dann kann er jeden Berg rauffahren."

+++ Eltern retten Sohn mit eigener Lunge - Organspende geglückt +++

Schwester Nele sieht die Veränderung ganz praktisch: "Wir müssen nicht mehr therapieren." Gemeint sind vor allem die anderthalb Stunden morgens wie abends mit intensivem Inhalieren, um den gefährlichen zähen Schleim zu bekämpfen: "Dadurch haben wir jetzt mehr Zeit zum Spielen."

Die Ärzte machten aber auch klar, dass solche Lebendspenden auch künftig die absolute Ausnahme bleiben werden. Es brauche zwei Spender, die Blutgruppe müsse stimmen, der Lungenlappen von der Größe her zum Empfänger passen: "Marius hatte Glück, seine Eltern erfüllten alle Voraussetzungen."

Die Ärzte nennen Marius respektvoll einen "absoluten Kämpfer", aber an einem Punkt hat er sich nicht gegen sie durchsetzen können: In diesem Winter darf der Sechstklässler noch nicht wieder zur Schule, es ist schließlich Schnupfensaison und Infekte sind das Letzte, was er jetzt gebrauchen kann. Dafür nutzte sein Vater die Pressekonferenz, um noch einmal zu betonen, wie wichtig Organspenden sind. Fast inquisitorisch fragte er die Journalisten, wer denn, bitte schön, keinen Spenderausweis habe - um dann gleich ein Blankoexemplar über den Tisch zu reichen.