Vor zehn Jahren sorgte ein Staupevirus für ein Massensterben an der Küste - und die Seuche kann jederzeit wieder auftreten.

Wilhelmshaven/Büsum. Tod an der Nordsee: Ein trockener Schuss knallt über den Strand, dann sackt der Seehund zusammen. Irritiert blicken Touristen zu dem Jäger, der das todkranke Tier mit einem Gnadenschuss von seinen Schmerzen erlöst hat. "Das waren schaurige Szenen", erinnert sich der Bremer Tierfotograf Armin Maywald, der vor zehn Jahren das große Seehundsterben verfolgte.

Im Sommer 2002 breitet sich ein verheerendes Staupevirus an den nordwesteuropäischen Küsten aus. Am 24. Juli berichtet das Wattenmeersekretariat von rund 2000 am Staupevirus gestorbenen Seehunden im dänisch-schwedischen Kattegat und Skagerrak sowie im holländischen Wattenmeer. Bis zum Jahresende verenden mehr als 21 700 Seehunde an Nord- und Ostsee zwischen Dänemark, Deutschland und den Niederlanden - gut die Hälfte des Gesamtbestandes.

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Kurz vor dem Seuchenzug hatte sich Maywald noch gefreut über den damals seltenen Anblick niedlicher Seehundbabys am Strand der Düne von Helgoland. "Doch bald lief meinen 'Models' Schaum aus dem Maul, und sie mussten erschossen werden", beschreibt der Fotograf die Hilflosigkeit der Beobachter und Helfer. "Das Gemüt rebellierte, aber es ging nicht anders." Täglich lagen Dutzende tote Seehunde an den Stränden. Noch bevor morgens die ersten Urlauber kamen, wurden die Kadaver meist abtransportiert. Dennoch trieb zum Schrecken der Kurverwaltungen manchmal auch ein halbtotes Tier zwischen den Badegästen.

In Wilhelmshaven, beim gemeinsamen Wattenmeersekretariat von Deutschland, Dänemark und den Niederlanden, liefen jede Woche neue Zahlen über Totfunde in ganz Nordwesteuropa ein. "Es gab aber keine Panik", erzählt der Leiter der Forschungsstelle, Jens Enemark. "Wir kannten das Phänomen schon aus dem Jahr 1988." Bei diesem ersten Ausbruch der Seuche herrschte noch Katastrophenstimmung und die Sorge, dass der gesamte Seehundbestand vernichtet werden könnte. Immerhin waren Ende 1988 mit rund 18 000 Tieren sogar 60 Prozent der Population verendet.

"Wir haben beobachtet, gesammelt, untersucht und diskutiert - aber nicht in die Natur eingegriffen. Das machte keinen Sinn", sagt Enemark. In den Niederlanden dagegen gab es Diskussionen, ob die Tiere durch Umwelteinflüsse geschwächt seien und mit Impfungen gerettet werden könnten. Die Idee wurde jedoch schnell verworfen.

Die Herkunft der Seuche ist nie eindeutig geklärt worden

Bis heute rätseln Experten, woher das tödliche Virus stammte. "Junge Sattel- und arktische Klappmützen-Robben könnten es 1988 eingeschleppt haben", nennt der Meeressäuger-Experte Michael Stede aus Cuxhaven eine Theorie. Bestimmte Robbenarten trügen das Virus in sich und könnten bei Wanderungen die Seehunde angesteckt haben.

"2002 gab es jedoch keine Hinweise auf Sattelrobben", sagt die Öko-Toxikologin und Zoologin Ursula Siebert. Vielleicht könnte das Virus zwischendurch bei Kegelrobben geparkt haben, nennt die Institutsleiterin für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung in Hannover eine weitere Theorie. Letztlich sei die Forschung aber lückenhaft.

Derzeit gelten die Seehundbestände in Deutschland, Dänemark und den Niederlanden als gesund und stabil. "Die Tiere haben aber kaum noch Antikörper zum Schutz gegen das Virus", sagt Siebert. Irgendwann könnte der Erreger wieder tödliche Kreise ziehen.

Bei einem Ausbruch vermehren sich die Viren in den Zellen, es entsteht zäher Schleim. Das Immunsystem wird geschwächt. Die Tiere können zwar ein-, aber kaum noch ausatmen. Sie sehen dann wie aufgeblasen aus und können nicht mehr tauchen. Überlebende Tiere bilden Antikörper und sind danach für eine Zeit lang immun gegen die Seuche. Die Abwehrkräfte lassen jedoch mit jedem Jahr nach.