Der auf Amrum vermisste zehnjährige Sebastian starb vermutlich beim Buddeln im Sand. Urlauberfoto brachte die Polizei auf die Spur. Obduktion läuft.

Amrum. Keine 24 Stunden ist es her, da sind Kinder über den Sand rund um den beliebten Strandspielplatz "Piratenschiff" gerannt. Sie haben Sandburgen und Löcher gegraben. Trotz der Suche nach dem vermissten Jungen gab es noch so etwas wie Normalität.

Nun verdecken blaue Plastikplanen und ein paar zusammengeschobene Strandkörbe die Sicht auf das Heck der Holzkonstruktion. Eine piratentypische Totenkopffahne weht ein paar Meter höher im Wind. Gut 40 Polizisten in schwarzer Kleidung und mit Basecaps stehen in kleinen Gruppen, sie blicken ernst. Dann kommt dieser silberfarbene Mercedes Vito mit dunkelroten Vorhängen vor den Fenstern - und mit ihm die Gewissheit: Der vermisste zehnjährige Sebastian ist tot.

Seit Sonntag wurde nach dem Kind aus Österreich, das mit seiner Familie Urlaub auf Amrum machte, gesucht. Aus der Nordseeinsel mit dem Idyllfaktor wurde die Insel, auf der ein Kind verschwunden ist. Ein Gefühl der Angst und der Ungewissheit machte sich breit. Viele Eltern ließen ihren Nachwuchs nicht mehr aus den Augen. Denn auch wenn alle betonten, dass sie nicht spekulieren wollten, ob es sich um einen Unfall oder ein Verbrechen handelte, eines spürten sie: Ein Happy End wird es nicht geben.

+++ Polizei findet Kinderleiche auf Amrum ++++

Gestern Nachmittag gegen 14 Uhr wurde aus der Vermutung Realität. "Wir haben eine männliche Kinderleiche gefunden", sagte Polizeisprecherin Kristin Stielow. "Wir müssen davon ausgehen, dass es sich dabei um den vermissten Sebastian handelt." Am Donnerstagmorgen bestätigte eine Polizeisprecherin, dass es sich bei der Leiche des gefundenen um den kleinen Sebastian handelt. Die Eltern hätten den Leichnam bereits identifiziert, wie Polizeisprecherin Kristin Stielow am Donnerstag sagte. Die aus Österreich stammende Familie des Jungen werde psychologisch betreut. Das Obduktionsergebnis wird am frühen Nachmittag zwischen 14 und 15 Uhr erwartet.

Der blondgelockte Junge war in 1,50 Meter Tiefe im Sand vergraben - an der Stelle, wo er zuletzt gesehen worden war. Nur einige Hundert Meter entfernt liegt das Ferienhaus, in dem Sebastian mit seiner zwölfjährigen Schwester und den Eltern wohnte.

Zur Todesursache gibt es bisher noch keine Erkenntnisse. "Wir schließen weder ein Verbrechen noch einen Unfall beim Spielen aus", so Stielow. Am Dienstag hatte die Polizei Urlauber aufgefordert, Fotos, die sie in letzter Zeit am Piratenschiff gemacht hatten, einzuschicken. Eines dieser Bilder gab den entscheidenden Hinweis. Darauf war Sebastian an der späteren Fundstelle spielend zu sehen - er buddelte ein Loch. "Die Umstände sehen eher nach einer Unfallsituation aus", sagte Matthias Glamann, Sprecher der Polizeidirektion Husum. Der Randbereich der Grube könne nachgegeben und das Kind unter sich begraben haben.

Etwas abseits des Einsatzortes steht die kleine Leonie, für sie ist völlig unverständlich, was hier gerade passiert: Warum so viele Polizisten an "ihrem Piratenschiff" stehen, warum so viele Kamerateams da sind, warum ihre Mutter möchte, dass sie heute nicht auf ihren Lieblingsspielplatz geht. Mit großen Augen schaut die Fünfjährige hoch zu ihrer Mutter. Die bleibt hart. "Das ist einfach ein komisches Gefühl", sagt Britta Förster, 34. "Das hätte auch meine Tochter sein können da unten." Förster arbeitet als Bedienung in einer Strandbar, die wenige Meter vom "Piratenschiff" entfernt liegt. Viele Eltern trinken hier einen Kaffee, während die Kleinen ein Stück weiter Piraten spielen, erobern und meutern. Auch Försters Tochter ist im Sommer fast jeden Tag auf dem Strandspielplatz. "Ich hätte nie gedacht, dass so etwas passieren kann", sagt die Mutter. "Nicht hier auf der Insel." Sie glaubt, dass die tragische Geschichte noch lange Spuren auf Amrum hinterlassen wird: "Es wird dauern, bis die Leute das verkraftet haben."

Zuvor hatten die Einsatzkräfte fieberhaft nach dem kleinen Jungen gesucht, mit Hubschraubern, Spürhunden und Schiffen der Seenotrettung. Mehr als 50 Feuerwehrleute durchkämmten auf der Insel nahezu jedes Grundstück, jeden Schuppen, jeden offenen Keller. Die Ermittler versuchten gleichzeitig zu rekonstruieren, ob der Junge möglicherweise - mit einer Yacht oder einer Fähre - aufs Festland verschleppt worden ist. Mehr als 100 Hinweise waren aus ganz Deutschland eingegangen. Ob in Köln, Frankfurt oder Hamburg, überall wollten Augenzeugen den Jungen gesehen haben. "In diesem Gewirr war es schwer, den Überblick zu behalten", sagt Ernst Mochner, Kriminaloberkommissar bei der mit dem Fall befassten Kriminalpolizei Niebüll. Doch von dem Jungen fehlte jede Spur.

Dabei hatten die Beamten kaum etwas unversucht gelassen. So sollten die Aufzeichnungen der auf Amrum postierten Überwachungskameras ausgewertet werden. Nach Abendblatt-Informationen sollten auch die Autos, die per Fähre die Insel verlassen haben, überprüft werden, zumal vor der Verschiffung jedes einzelne Kennzeichen automatisch eingescannt wird. Alle Ermittlungsansätze sind jetzt passé, alle Hoffnungen zerschlagen - Sebastian ist tot.

Die Tragödie lässt auch die zu Objektivität verpflichteten Polizisten alles andere als kalt. Die Kriminalpolizei Niebüll ist klein, nur wenige Beamte haben hier Dienst. Völlig unvorbereitet habe sie das Verschwinden des kleinen Jungen getroffen, sagt Mochner. Der Fall habe die Kapazität der Dienststelle überschritten, gerade jetzt in der Urlaubszeit. Häufig haben es Ernst Mochner und seine Kollegen mit illegal geschlachteten Schafen zu tun, sehr selten auch mit Tötungsdelikten - aber eine Kindesentführung, die gab es auf Amrum noch nie. "Hier ist die Stimmung gedrückt, wir sind ja alle Familienväter", sagt er. Einige seiner Kollegen würden nun psychologisch betreut.

Wo gerade noch Hoffnung war, herrscht jetzt tiefe Trauer. Da geht es dem Bürgermeister von Amrum, Jürgen Jungclaus, nicht anders als den Insulanern und den Touristen. "Das alles ist schrecklich, einfach nur furchtbar", sagt er. "Alle haben so sehr gehofft, dass der Junge noch lebt. Unser Mitgefühl gilt den Eltern." Jungclaus klingt mitgenommen. Er hat erst vor Minuten die schreckliche Nachricht erhalten.

"Die Menschen sind sehr, sehr betroffen", sagt der Chef der Amrum Touristik, Frank Timpe. Welche Folgen der Fund der Kinderleiche auf den Tourismus habe, sei noch nicht abzusehen.

Amrum, die zehntgrößte deutsche Insel mit 2300 Einwohnern und jährlich rund 300 000 Gästen, steht unter Schock. Sabine Rohlfs, 48, aus Hamburg hatte gestern ihren letzten Urlaubstag auf Amrum und wollte mit ihrer zehnjährigen Tochter noch einmal zu deren Lieblingsspielplatz. Als sie ankam, war der bereits gesperrt, und Polizisten wateten durch den Sand. Die beiden setzten sich nichts ahnend auf die Terrasse der Strandbar, auf der sich bereits einige Schaulustige eingefunden hatten, und erlebten den tragischen Fund hautnah mit. "Das macht mich sehr betroffen", sagt Rohlfs. "Als der Leichenwagen vorbeifuhr, habe ich Gänsehaut bekommen. Das ging mittenrein." Nun sei sie irgendwie froh, dass sie abreisen. Den bitteren Beigeschmack des Unglücks werde dieser Urlaub wohl nie verlieren. "Die Insel war für mich immer wie ein geschützter Bereich. Aber die heile Welt gibt es wohl nirgendwo."

Auch Heide Bach ist ergriffen. Als der Leichenwagen an ihr vorbeifährt, versteht sie, was da unten am Strand los ist, springt auf und murmelt mit vorgehaltener Hand vor sich hin. Die Wörter "furchtbar" und "der arme Junge" sind zu hören. "Ich kann gar nicht begreifen, warum man ihn da nicht schon früher gefunden hat", sagt die 71-Jährige, die selbst drei Töchter hat. "Als Mutter - egal wie alt - ist man da ganz fertig."

An einem Geländer vor dem zweistöckigen Betonbau lehnt ein Mann mit rotem T-Shirt auf dem DLRG (Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft) steht. "Da haben wir doch gesucht", sagt er, seine Augen hat er hinter einer Sportsonnenbrille versteckt. "Wir haben doch unter dem ganzen Gerüst gesucht." Die Fassungslosigkeit ist ihm anzumerken. "Ich kann das nicht richtig realisieren", sagt der 69-Jährige aus Wuppertal, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Für ihn schließt sich ein Kreis. Er war es, dem die Eltern als Ersten vom Verschwinden des Jungen berichteten, und nun wird da ein paar Meter weiter die Leiche des Jungen geborgen. Der Mann von der DLRG kommt seit gut 20 Jahren nach Amrum, um im Notfall Leben zu retten. Sein Kollege und er wohnen direkt über der Strandbar, vom Balkon können sie das "Piratenschiff" sehen. Sonntagabend gingen sie joggen. Als sie zurückkamen, standen Sebastians Eltern vor ihnen. Der Junge sei nicht zur vereinbarten Zeit nach Hause gekommen. "Besonders die Mutter war geschockt und völlig neben der Spur." Gemeinsam haben sie gesucht - auch dort, wo das Kind nun gefunden wurde. "Wir sind da ja drübergelaufen." Er schüttelt den Kopf.

Der Fall hat auch die Polizei vor logistische Herausforderungen gestellt, schuld ist die Insellage. Erst gegen halb eins am Mittag ist gestern ein Großteil der Hundertschaft aus Eutin per Fähre nach Amrum gekommen. Zwischen den Autos mit Baby-an-Bord-Aufklebern an der Heckscheibe und Strandtüchern im Kofferraum standen gut ein Dutzend Polizeibusse. Einige davon hatte das Team am Hafen Dagebüll zurücklassen müssen - kein Platz. "Auch Unterkünfte sind organisiert", sagte Kristin Stielow bei der Ankunft. "Je nachdem ob wir was finden, entscheiden wir, ob wir länger vor Ort bleiben." Und dann ging alles ganz schnell. Die Polizisten fahren zum teilweise abgesperrten Strand und beginnen genau am "Piratenschiff" zu graben. Ein lindgrüner Traktor mit Frontlader baggert mit. Nach gut 15 Minuten ein Stopp, dann sind die blauen Plastikplanen da. Die Aufgabe der Suchtrupps ist erfolgreich erledigt - und trotzdem ist nichts gut.