“Es ist über mich gekommen“: Der Mann, der fünf junge Frauen tötete, steht 27 Jahre nach der letzten Tat vor Gericht

Kiel. Der Mann, der fünf junge Frauen ermordet haben soll, betritt um 9.04 Uhr den Verhandlungssaal im Kieler Landgericht. Groß und stämmig ist er, mit gepflegtem grauen Haar und grauem Bart. Während dem 65-Jährigen die Handschellen abgenommen werden, halten Angehörige der Opfer den Atem an. Eine Frau wischt sich Tränen aus den Augen und knetet ihr Taschentuch. Nach Jahrzehnten der Ungewissheit sitzen sie nun dem Mann gegenüber, der ihre Liebsten umgebracht haben und sich an den Leichen teilweise sexuell befriedigt haben soll.

Zum Prozessauftakt im Kieler Landgericht gesteht Hans-Jürgen S. die Mordserie zwischen 1969 und 1984. Er nennt seine Taten "unfassbar". Die Opfer - 15 bis 22 Jahre alt - wählte er zufällig, lauerte ihnen auf und fiel unvermittelt über sie her. Vier Frauen erwürgte er mit bloßen Händen, an drei der Leichen verging er sich anschließend.

Bis zu seinem ersten Mord im Juni 1969 soll der Angeklagte keinen Geschlechtsverkehr gehabt haben. Damals war er 22 Jahre alt. Bei dem fünften Opfer, der 18 Jahre alten Schwesternschülerin Gabriele S., ging der gelernte Maurer anders vor. Er vergewaltigte sie zuerst, dann tötete er sie, damit sie ihn nicht verriet.

Die Ermittler waren dem Maurer erst auf die Spur gekommen, als sie mithilfe neuer DNA-Methoden den Mordfall Gabriele S. noch einmal untersuchten. Im Herbst 2010 nahmen sie freiwillige Speichelproben von 150 Männern, die schon 1984 befragt worden waren. Darunter war der Bruder von Hans-Jürgen S. Seine DNA führte zu dem mutmaßlichen Täter. Der Vater zweier Töchter und Großvater wurde im April festgenommen.

In der Untersuchungshaft gestand er zunächst den Mord an Gabriele S., später auch vier weitere Morde. Er habe reinen Tisch machen wollen, erklärte Hans-Jürgen S. in den Vernehmungen. Anhaltspunkte für weitere Taten gebe es vorläufig nicht, aber es liefen noch Ermittlungen, sagte der Leiter der Ermittlungen im Zeugenstand.

Dass der Angeklagte zu Gewalt gegen Frauen neigt, war den Behörden spätestens seit 1993 bekannt. Rund neun Jahre nach dem letzten der fünf angeklagten Morde stand er schon einmal vor Gericht. Wegen gefährlicher Körperverletzung und Vergewaltigung einer Prostituierten in Hamburg wurde er zu einer einjährigen Bewährungsstrafe verurteilt.

Vor dem Kieler Gericht spricht er nicht selbst, sondern lässt seinen Verteidiger Horst Schumacher eine Erklärung verlesen. "Ich fühle mich zurzeit überfordert, mich in der Hauptverhandlung noch einmal zu den Vorwürfen zu äußern", heißt es darin. Auch die Entschuldigung für seine Taten spricht er nicht selbst aus, er hebt nicht den Blick, um den Angehörigen ins Gesicht zu sehen. Dem Mann drohen lebenslange Haft und Sicherungsverwahrung.

Was Hans-Jürgen S. zu den Morden an den fünf jungen Frauen trieb, bleibt am ersten Verhandlungstag unklar. "Es ist über mich gekommen, ich habe die Kontrolle verloren", sagte er in den Vernehmungen. Seinen ersten Mord beging er im Frust auf Frauen, von denen er immer Absagen kassiert habe. "Da hat das Mädchen dran glauben müssen." Später gab es Probleme in seiner Ehe, die ihn trieben.

Die Angehörigen der Opfer hoffen, im Angesicht des Angeklagten endlich einen Abschluss zu finden. Die beiden Brüder und die Mutter von Gabriele S. sitzen als Nebenkläger im Gerichtssaal, hinter den zwei Schwestern der 1969 ermordeten Renate B. Sie blicken den Mann immer wieder direkt an.

"Die Tat ist über 40 Jahre her und war ständig Thema in der Familie", sagt der Anwalt von Renates Schwestern, Reiner Köhnke. Die 16-Jährige war monatelang spurlos verschwunden. Bis man ihre Leiche in einem Graben fand, wusste die Familie nicht einmal, ob sie tot war. Später vermutete die Polizei den Täter im Umfeld der Familie. Der Albtraum nahm kein Ende.

"Es tut mir leid", hatte der Angeklagte in den Vernehmungen gesagt. Ob das den Schmerz lindern kann?