Protestpartei will in Schleswig-Holstein und Niedersachsen in die Landtage einziehen. Frühere Ökopolitikerin Angelika Beer auf Platz 6 der Landesliste

Kiel/Hannover. Angelika Beer will es noch einmal wissen. Die frühere Bundesvorsitzende der Grünen, die vor 30 Jahren die Ökopartei mitgründete und sie im Bundestag und Europaparlament vertrat, zieht mit der Piratenpartei in die schleswig-holsteinische Landtagswahl am 6. Mai 2012. "Ich glaube, dass wir es in den Landtag schaffen", sagt Beer und lässt keinen Zweifel daran, dass sie gerade in grünen Gewässern fischen will. Mit dieser Strategie möchten die Piraten auch in Niedersachsen am 20. Januar 2013 den Landtag in Hannover entern.

"Die Grünen sind inzwischen eine Altpartei, der es nur noch um die Macht geht", kritisiert Beer. Die Piraten in Schleswig-Holstein seien dagegen unangepasst, würden "quer durch die Welt" diskutieren und hätten das Zeug, die Politik aufzumischen. An Zulauf mangelt es den Polit-Piraten seit dem Wahlerfolg in Berlin vor zwei Monaten nicht. "In Schleswig-Holstein hatten wir vor Berlin 370 Mitglieder, heute sind es 550", berichtet Landes-Generalsekretär Heiko Schulze. "Das hat einen richtigen Hype gegeben."

Angefragt hätten auch frustrierte Ex-Mitglieder anderer Parteien. Dabei sei es einigen nicht nur um "die Sache" gegangen, sagt Schulze und erzählt freimütig, wie ein junger Mann bei den Piraten mit der Tür ins Haus fiel: "Ich bin aus der FDP ausgetreten, wo kann ich bei euch Karriere machen?"

Beer berichtet derweil begeistert vom Landtagswahlprogramm, das basisdemokratisch im Internet entsteht, bereits mehr als 50 Seiten stark ist und "fast stündlich" wächst. Im Zentrum steht der Ausbau der Bürgerrechte, eine "Ein-Themen-Partei" sind die Nord-Piraten allerdings nicht. Im Programmentwurf geht es auch um Sozialpolitik, den Verkehrsbereich oder die Schulen, wobei es jeweils lange und teure Wunschzettel gibt.

Beispiel Verkehr: Die Piraten wollen in drei großen Feldversuchen testen, ob sich ein kostenloser Busverkehr in größeren Städten, kleineren Orten und auf dem flachen Land "rechnet". Beispiel Bildung: Die Piraten möchten die Krippen für jedes Kind (nach dem zweiten Lebensjahr) ebenso gebührenfrei machen wie alle drei Kindergartenjahre, zudem in den Schulen neue Lehrerstellen schaffen. Offen bleibt, was die im Bundesvergleich einzigartige Bildungsoffensive kosten und wie das überschuldete Schleswig-Holstein die Zusatzausgaben finanzieren soll.

"Das Kapitel zur Finanzpolitik kommt noch", verspricht Schulze und wirbt um Unterstützung. Auch Nicht-Parteimitglieder können Vorschläge auf dem Programm-Parteitag Mitte Januar machen, sogar Anträge stellen. Beer, die an erste grüne Programme denkt, sieht über die Schwächen der Piraten hinweg. "Wir haben Visionen und zielen in Schleswig-Holstein nicht auf eine Regierungsbeteiligung." Gleichwohl könnten die Piraten in Kiel zum Zünglein an der Waage werden. Bei den Grünen wächst die Sorge, dass die Protestpartei nicht nur bisherige Nichtwähler mobilisiert, sondern der Ökopartei so viele Prozentpunkte abjagt, dass es weder zu einer rot-grünen noch zu einer schwarz-grünen Regierungskoalition reicht und sich am Wahlabend nur eine Große Koalition rechnet. Unabhängig davon blicken einige Grüne etwas neidisch auf die jungen Wilden. "Ich glaube, wir Grüne gehören schon zum System", sagt die Landtagsabgeordnete Ines Strehlau. "Wir müssen raus aus unseren Schützengräben und quer denken."

Bei aller Sympathie für die Piraten betonen Beer wie auch Strehlau, dass die neue Protestbewegung ganz anders aufgestellt ist als ihr grüner Vorläufer Ende der 70er-Jahre. Geburtshelfer der Ökopartei waren damals in Schleswig-Holstein die K-Gruppen, insbesondere der Kommunistische Bund (KB), bei dem auch Beer startete. "Wir haben damals geguckt, womit wir die meisten Menschen ansprechen können, und uns taktisch für die Ökologie entschieden." Andere Wurzeln der Grünen waren die Friedens-, die Anti-Atomkraft- und die Frauenbewegung. Derart politisiert sind die Ende 2007 im Restaurant Piratennest auf Fehmarn gegründeten Nord-Piraten nicht. Beer ist die einzige Frau unter den 35 Wahlkreiskandidaten, steht als erste Politikerin auf Platz sechs der Landesliste, könnte damit immerhin bei einem Wahlergebnis von um die sechs Prozent in den Landtag einziehen. Für die 54-Jährige wäre das Neuland. Die Notariatsgehilfin, die von 2002 bis 2004 Vorsitzende der Bundes-Grünen war, saß acht Jahre im Bundestag und fünf im Europaparlament. Als die Grünen ihr 2009 für Brüssel einen sicheren Listenplatz verwehrten, strich Beer die Segel, trat bei der Ökopartei aus und einige Monate später bei den Piraten ein. Noch länger dabei sind nur wenige Piraten, darunter ihr Spitzenkandidat Torge Schmidt, 23, der über seinen Stiefvater Henry Piepgras zu den Polit-Freibeutern kam. Piepgras ist Parteichef der Nord-Piraten.

Eine Politikerin wie Beer oder eine vergleichbare Galionsfigur haben die Piraten in Niedersachsen zwar nicht, aber gleichwohl strotzen auch sie vor Selbstbewusstsein. Ihr bereits ernannter Wahlkampfkoordinator Andreas Neugebauer legt die Messlatte für die Landtagswahl hoch. "Wir sind die Alternative auf dem Wahlzettel für alle Bürger und planen mit sechs Prozent plus für die Wahl." Allein im Oktober hat die Partei um mehr als 300 auf jetzt 1300 Mitglieder zugelegt, mischt mit Pressemitteilungen etwa beim Datenschutz bereits in der Landespolitik mit. Auch in Niedersachsen dient das Internet als Basis für die Ausformulierung eines Wahlprogramms, und da gibt es bereits einen eigenen Organisationspunkt für den 20. Januar 2013: "Wahlparty organisieren".

Die Erfolge der Piraten in den großen Städten Niedersachsens bei der Kommunalwahl im September machen die Grünen sichtlich nervös. In Hannover hat die Grünen-Bundestagsabgeordnete Brigitte Pothmer die Basis zusammengetrommelt, um über die "siegreichen Freibeuter" zu diskutieren. Vor vielleicht 25 Parteifreunden bekennt die 56-Jährige: "Ein bisschen neide ich denen ihren rebellischen, frischen Geist." Auch die Grünen werden von den Piraten als eine der "Altparteien" geschmäht; es geht also für die Grünen um Schadensbegrenzung und darum, die neuen Gegner fassbar zu machen.

"Unernst verspielt" nennt der Landesvorsitzende Jan Haude die Piratenpartei, bemängelt Programmdefizite. Aber er gibt auch zu, dass der Piratenslogan zur Berlin-Wahl ("Wir suchen die mit den Fragen") toll war: "Darin liegt viel Potenzial." Anschließend dreht sich fast das ganze Krisentreffen darum, ob denn wohl der Gründungsmythos der Piraten das Zeug hat, so dauerhaft und tragfähig zu werden wie die Erfolgsgeschichte der Grünen. Ines Kappert, als Fachfrau aus Berlin zum Ratschlag gerufen, kann keine Entwarnung geben: "Es gibt ein großes Bedürfnis nach einer anderen Art der Politik." Sie muss es zum Leidwesen der Grünen wissen, schließlich leitet sie das Meinungsressort der linken Tageszeitung "taz". "Mehr eigene Experimente" fordert deshalb der erst 30-jährige Grünen-Landesvorsitzende Haude und macht kein Hehl daraus, dass die Grünen in den Krieg ziehen müssen: "Ich halte die Schlacht für chancenreich."

Unbestritten ist, dass die Grünen in die Jahre kommen. Vor Kurzem trafen sich in Schleswig-Holstein zwei Dutzend Mitglieder zwischen 51 und 75, um die "Grünen Alten" zu gründen und, wie Sprecher Joachim Brandt sagt, neue Ziele anzusteuern. "Wir wollen uns für die Revolution im Altersheim rüsten."