Erst eine Nazi-Feriensiedlung, dann eine NVA-Kaserne. Jetzt hat in Prora auf Rügen die längste Jugendherberge der Welt eröffnet.

Die Nazis waren zuerst hier. Dann kamen die Kommunisten. Dann kam eine Weile nichts. Und jetzt ist Dennis Brosseit hier. 36 Jahre alt, groß, athletisch, braun gebrannt. Dennis Brosseit aus Düsseldorf, der irgendwie überhaupt nicht hierher passt und doch genau richtig ist in Prora auf Rügen. Als Herbergsvater der längsten Jugendherberge der Welt.

Schon die Flure sind 141,35 Meter lang. Stolz führt Brosseit herum. Überall riecht es noch nach frischer Farbe. Es gibt 96 Zimmer, 400 Betten. Die Zimmer sind hell, die Betten aus Holz, der Boden ist aus Gussasphalt mit hellgrauer Linoleumschicht. Die meisten Zweier-, und Viererzimmer haben Dusche und WC. Der Gast muss sein Bett selbst beziehen.

Jedes der vier Stockwerke hat seine eigene Farbe. Die Räume heißen "Vänskap", das ist Schwedisch und bedeutet "Freundschaft". Oder "Odwaga", das ist Polnisch und heißt "Mut". Im Keller steht jetzt ein Blockheizkraftwerk, das mit Rapsöl läuft und Strom erzeugt. 16,8 Millionen Euro hat die Jugendherberge gekostet. Überall im Gebäude hört man Kindergeschrei.

Am 4. Juli hat das Haus eröffnet. Eine Jugendherberge in einem unvollendeten Riesenkomplex der NS-Freizeitorganisation "Kraft durch Freude", das lockte die internationale Presse an. Diese verrückten Deutschen - machen Urlaub in einem größenwahnsinnigen Hitler-Bau!

"Es ist ein krasser Ort", sagt Brosseit, "gigantös." Im vergangenen Oktober stand er zum ersten Mal vor der endlos langen Anlage, die sich wie ein steinerner Wurm von Prora bis nach Binz zieht. Viereinhalb Kilometer lang. Die Verantwortlichen des Jugendherbergswerks hatten gemeint, dass Prora gut zu ihm passen würde. Zu seinem bunten Lebenslauf.

Brosseit hat Sonderschulpädagogik studiert, dann in Berlin Fünf-Sterne-Hotels vermarktet. Vor sieben Jahren wanderte er nach Mallorca aus, machte aus einer Ruine ein kleines Hotel. "Casa Poesia", sagt Brosseit. Dann wurde ihm langweilig, er schaute sich wieder in Deutschland nach einem Job um. Mit seinem Konzept "Aus Grau mach Bunt" hatte er den Job in Prora.

"Für mich ist das hier erst einmal eine Jugendherberge", sagt Dennis Brosseit. Mittlerweile nerven ihn die Fragen nach der Geschichte. Die einen würfen ihm vor, er übertünche ein dunkles Kapitel einfach, indem er ein völlig neues Haus in den Komplex hineinpflanze. "Stimmt aber nicht", sagt er, "es ist noch die Bausubstanz der Nazis." Auch die Decken wurden nicht neu verputzt, jedes einzelne Fenster musste maßgefertigt werden, weil das Gebäude unter Denkmalschutz steht. Nur von außen hebt sich die Herberge mit ihrer frischen Farbe von den anderen braun-grauen Blöcken ab.

Es gibt viele Leute, die ihren Teil von Prora beanspruchen. Ein Rechtsextremer jubelte im Internet: "Auch unter volkstreuen Urlaubern aus der ganzen Welt dürfte sich die Jugendherberge rasch zum Renner entwickeln - ganz im Sinne von ,Kraft durch Freude' eben." Und dann klingelte das Telefon bei Brosseit. "Wir wollen in unserer Kaserne übernachten", schnarrte es durch die Leitung. Ehemalige Fallschirmjäger der Nationalen Volksarmee wollten sich zum Jubiläum ihres Bataillons treffen - in der Jugendherberge. Brosseit sagte Nein. "Wir sind kein Versammlungsort für politische Gesinnung", schimpft er. Er ist von Mallorca in der Vergangenheit gelandet.

Draußen vor der Jugendherberge steht Birte Kröncke. Sie ist 27, hat einen Magister in Politik und Geschichte. Seit Juni ist sie beim Prora-Zentrum beschäftigt, dem Träger der Bildungsstätte der Jugendherberge. Kröncke will den Gästen zeigen, wo sie ihren Urlaub verbringen. Obwohl es regnet, stehen über 20 Gäste vor ihr.

Es sind Familien wie die Hackenburgs aus Orlamünde in Thüringen oder die Jakischs aus Warendorf im Münsterland. Das Zimmer kostet 31,50 Euro pro Person und Nacht inklusive Vollpension. "Es hat halt einfach alles gepasst", sagt Antje Hackenburg, "Jugendherbergen am Strand sind sehr begehrt." Und zu den Störtebeker-Festspielen nach Ralswiek ist es auch nicht weit. Von Prora hat sie erst vor wenigen Jahren zum ersten Mal gehört, in einer Fernseh-Dokumentation.

Thomas Jakisch hat Prora wegen der Strandlage ausgewählt. Am Morgen waren er und seine Frau Petra in der Ostsee baden. "Vorher hatte ich noch nie was davon gehört", sagt er. Nachdem er gebucht hatte, sprachen ihn Freunde an: "Was? Da wollt ihr Urlaub machen?" Jakisch gab "Prora" in eine Internetsuchmaschine ein. Jetzt findet er seinen Urlaubsort noch besser. "So können sich junge Leute mit den Nationalsozialismus und der DDR-Zeit beschäftigen", sagt er. Sein Sohn Jann-Paul ist 13.

Die Führung beginnt. Acht Blöcke à 500 Meter Länge wurden bis 1939 erbaut. "Heute stehen noch fünf Blöcke, zwei sind als Ruinen zu sehen, einer wurde ganz weggesprengt", sagt Birte Kröncke.

20 000 Urlauber sollten damals gleichzeitig ins "KdF-Seebad Rügen" kommen, 2500 pro Block, 1250 Menschen sollten gleichzeitig in einem Speisesaal speisen, jeder Urlauber sollte acht Quadratmeter Strand zur Verfügung haben. Eine halbe Million Deutsche sollte pro Saison in Prora Kraft tanken. Für 20 Reichsmark die Woche und Person. Alle Zimmer mit Seeblick. "Das hat Hitler persönlich angeordnet", sagt Birte Kröncke. Für Juden, Sinti und Roma, Behinderte, Kranke und Alte waren die Heilbäder tabu. Nur kriegswichtige Volksgenossen sollten sich nach der Nazi-Ideologie hier erholen.

Ein typischer Nazibau sei Prora aber nicht, sagt Kröncke. Lang gezogene Gebäude waren in den 30er-Jahren europaweit im Trend, Prora-Architekt Clemens Klotz bekam 1937 auf der Weltausstellung in Paris für seinen Entwurf einen "Grand Prix".

"Es gibt immer noch Leute, die glauben, hier hätten tatsächlich Menschen Urlaub gemacht", sagt Kröncke. Noch so ein Mythos. Sie zeigt auf einer laminierten Karte das Bild eines Zimmers: Pro Raum, 2,50 mal 4,75 Meter groß, gab es zwei Betten, ein Waschbecken, eine Sitzecke und ein Fenster. Und in Berlin stand ein Modell-Zimmer, das die Propaganda der Nazis so vermarktete, dass viele glaubten, Prora sei schon in Betrieb. Auch Werbeplakate mit einem blond-blauäugig-gesunden jungen Ehepaar waren schon geklebt worden. 1936 war der Grundstein gelegt und bis zum Sommer 1939 der Rohbau fertig geworden. Aber dann brach der Krieg aus - und die Bauarbeiten wurden eingestellt.

Und dann? Marine-Nachrichtenhelferinnen wurden hier noch ausgebildet, polnische Kriegsgefangene und sowjetische Zwangsarbeiter mussten das Gelände weiter ausbauen. 1945 kamen hier viele Flüchtlinge an, die weiter nach Westen zogen. Die Russen bezogen nach dem Krieg zwei Blöcke. Ab 1950 war hier die Kasernierte Volkspolizei untergebracht, die später in der Nationalen Volksarmee aufging. Das Gelände wurde zum militärischen Sperrgebiet, gesichert mit Stacheldraht. Soldaten wurden hier ausgebildet, bis zu 10 000 waren gleichzeitig hier. Man sehe noch die Einschusslöcher von ihren Schießübungen, sagt Kröncke.

"Papa, gehen wir gleich zu den Einschusslöchern?", will Jann-Paul Jakisch wissen. Vielleicht später, sagt sein Vater. Thomas Jakisch kann jetzt verstehen, warum viele hier nicht Urlaub machen wollen. "Dieser Kontrast zwischen Alt und Neu - ich weiß nicht, ob das jeder braucht. Viele Menschen suchen doch im Urlaub die heile Welt."

Die Gruppe steht jetzt wieder vor der Jugendherberge. Nach der Wende verkaufte das Bundesvermögensamt die einzelnen Blöcke an Investoren. Die beiden Ruinen gingen an einen Investor aus Liechtenstein. In einem anderen Block befindet sich ein NVA-Museum mit Wiener Kaffeehaus und Motorrad-Ausstellung - ein Sammelsurium, nicht wissenschaftlich fundiert. Es heißt, dass vor allem ehemalige NVA-Soldaten dorthin gehen, in Erinnerung an alte Zeiten. Da passt auch das Schild, mit dem das Museum wirbt: "Willkommen in der Vergangenheit" steht darauf.

"Also mir gefällt es hier gut", sagt Peter Hackenburg aus Thüringen. Nächstes Jahr haben die Hackenburgs wieder gebucht.

Auch Stephan Schack kommt häufiger nach Prora - wieder. Schack war von Mai 1984 bis Oktober 1985 hier als Bausoldat, so heißen die Wehrdienstverweigerer in der DDR, die 18 Monate lang als billige Arbeitskräfte zur NVA mussten. "Wir waren Staatsfeinde", sagt er. Schack hatte verweigert, weil er Christ ist, sein Vater war Pfarrer.

Lange hatte Schack Albträume, er träumte von Offizieren, die Befehle brüllen, von Bestrafung, von schwerer körperlicher Arbeit. Sie mussten damals den Hafen von Mukran mitbauen, mit bloßen Händen, Maschinen durften sie als Staatsfeinde nicht bedienen. Morgens um 4.30 Uhr aufstehen, arbeiten bis 18 Uhr. "Es gab kein warmes Wasser. Zehn nackte Männer standen in einem Wassertrog, in dem sie sich waschen sollten", sagt Schack. Die NVA-Offiziere schikanierten die Drückeberger, es gab Haftstrafen, Urlaubsentzug. "Wenn ich nicht Freundschaften geschlossen und manchmal den schönen Blick auf die Ostsee genossen hätte, wäre ich daran zerbrochen", sagt Schack. Später engagierte er sich in der Bürgerrechtsbewegung, war einer der Mitgründer des Neuen Forums in seiner Heimat Thüringen. Heute arbeitet er als Trainer für Demokratiepädagogik und unterstützt das Prora-Zentrum.

Herbergsvater Dennis Brosseit erwähnt die Geschichte in seinem Hausprospekt nicht, er will nicht damit werben: "Die Leute wollen sich hier eine schöne Zeit machen. Ich will nicht, dass sie mit gesenktem Haupt herumlaufen. Die Fragen kommen von selbst." Und die Gäste auch: Die Jugendherberge ist ausgebucht, im Juli zählte Brosseit 10 000 Übernachtungen und 36 000 Essen, die seine Küche ausgab. "Eine gigantöse Erfahrung", sagt er.