In einem Labor in Hannover werden Sprachfähigkeiten von Kleinkindern untersucht - mit erstaunlichen Ergebnissen

Hannover. Im Babylabor der Universität Hannover dürfen schon Windelkinder fernsehgucken - allerdings nur fünfeinhalb Minuten und streng im Dienste der Wissenschaft. Carla, 2, sitzt auf dem Schoß ihrer Mutter in dem abgedunkelten Testraum und schaut fasziniert auf den Bildschirm. "Der Mann telpt einen Ballon", sagt die Sprecherin aus dem Off, während ein Mann einen Ballon schwenkt. "Die Frau waupt eine Decke", heißt es in der nächsten Szene. Gemeint ist "schüttelt". Das Team um Prof. Ulrike Lüdtke vom Lehrstuhl Sprachpädagogik und Sprachtherapie will in einer Studie herausfinden, ob sich Kleinkinder die Fantasiewörter einprägen und noch eine Woche später der entsprechenden Bewegung zuordnen können. Dazu werten die Sprachforscher die Augenbewegungen der kleinen Probanden aus. Nach ersten Ergebnissen können sich die Kinder die genannten Wörter merken.

Seit den 90er-Jahren sind an deutschen Forschungseinrichtungen etwa ein Dutzend Babylabore entstanden: Mediziner, Psychologen und Sprachwissenschaftler wollen die Geheimnisse der kindlichen Entwicklung ergründen. Lange wurden die intellektuellen Fähigkeiten von Säuglingen unterschätzt. Heute weiß man, dass Babys bereits im Mutterleib lernen und schon mit einem halben Jahr mathematische, physikalische und psychologische Dinge begreifen.

Technische Entwicklungen ermöglichten neue Methoden wie das "Eyetracking", bei dem die Blickbewegungen der Babys aufgezeichnet werden. Mithilfe von bildgebenden Verfahren wie Computertomografie können die aktiven Gehirnregionen sichtbar gemacht werden.

In einem der ersten deutschen Babylabore an der Universität Potsdam wurden bereits verblüffende Erkenntnisse gewonnen. "Lange bevor sie selbst sprechen, wissen Babys schon eine ganze Menge über ihre spezielle Sprache. Das war früher außerhalb der Vorstellungskraft", berichtet Professor Barbara Höhle vom Brandenburger Babylabor. "So reagieren beispielsweise deutsche und französische Kinder bereits im Alter von sechs Monaten völlig unterschiedlich auf Betonungsmuster."

Wie lernen Kinder Sprache? Welche Rolle spielen dabei die Emotionen? Das sind Leitfragen in Hannover. "Die Grundlagenforschung ist für uns Mittel zum Zweck", sagt Prof. Lüdtke. Den Forscherinnen geht es langfristig darum, Sprachstörungen besser zu erkennen und zu behandeln. "Nach Studien zeigen etwa 20 bis 50 Prozent der Kinder in Kitas Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung", sagt Doktorandin Franziska Leischner. Und dies seien nicht nur Mädchen und Jungen mit Migrationshintergrund.

Eine zentrale Rolle beim Sprechenlernen spielen die Emotionen und die Interaktion mit der Bezugsperson - meist der Mutter. Empirische Studien haben gezeigt, dass unter emotionalen Extrembedingungen häufig Sprachprobleme entstehen. "Schon direkt nach der Geburt erwartet ein Kind ein positives kommunikatives Gegenüber, das ihm direkt antwortet. Bei Frauen mit einer postnatalen (nach der Geburt auftretenden) Depression oder einer Borderline-Störung wird diese positive Kommunikationserwartung enttäuscht oder es kommt die falsche beziehungsweise negative emotionale Reaktion", berichtet Lüdtke.

Diese Interaktion erkunden die niedersächsischen Sprachpädagogen in einer Feldstudie. Mütter bekommen Kameras und filmen sich und ihr Kind über einen längeren Zeitraum zu Hause beim Wickeln. Dabei wollen die Forscherinnen herausfinden, ob sich beim Sprechenlernen gesellschaftliche Probleme auswirken.

Die Hannoveraner arbeiten eng mit Babylaboren in Kopenhagen, Edinburgh, Paris und Chicago zusammen. Darüber hinaus wird mit Unterstützung des Bundesforschungsministeriums und des Landes Niedersachsen in Afrika ein Babylabor aufgebaut. Eine Projektgruppe beschäftigt sich mit der Sprachentwicklung von Aids-Waisen in einem Kinderheim in Tansania. Neben der Forschung geht es hier um Entwicklungszusammenarbeit: Die Pflegerinnen in dem Waisenhaus werden angeleitet, wie sie mit den häufig stark traumatisierten Babys am besten kommunizieren und sie in ihrer gesamten Entwicklung fördern können.

Nach Überzeugung von Ulrike Lüdtke müssen schon in der Schwangerschaft und im Babyalter die richtigen Weichen für die Sprachentwicklung gestellt werden. "Die meisten Eltern wissen das intuitiv und kommunizieren vom ersten Tag an spielerisch und mit viel Freude mit ihren Kindern", sagt sie. Allerdings müssten die wissenschaftlichen Erkenntnisse über den ganz frühen Spracherwerb auf allen Ebenen in die Praxis gebracht werden. "Man könnte Elterntrainings verbessern, Erzieherinnen und Tagesmütter besser schulen und die häufig prekären Lebensbedingungen von jungen oder alleinerziehenden Müttern verbessern."