Die Angeklagten sollen 700 000 Handynutzer mit SMS-Chats um insgesamt 46 Millionen Euro betrogen haben. Prozessauftakt war bereits 2009.

Kiel. Wahrheitsfindung kann mühselig und langwierig sein. Das ist Justizalltag. Dass sie auch richtig teuer wird, zeigt ein Prozess um mutmaßliche Abzocke mit Flirt-SMS am Kieler Landgericht. Mit sechs Angeklagten und zwölf Verteidigern im September 2009 als eine Art Musterprozess gestartet, schleppt sich das Verfahren inzwischen fast unbeachtet ins dritte Jahr. Und: "Es ist noch kein Ende abzusehen. Das Gericht hat bereits bis in den Herbst 2012 terminiert", sagt Gerichtssprecherin Rebekka Kleine.

Nach mehr als 200 Verhandlungstagen belaufen sich allein die Honorare für die sechs Pflichtverteidiger der drei Hauptangeklagten auf etliche 100 000 Euro. Hinzu kommen - neben den laufenden Kosten für die drei Berufsrichter, die Protokollantin und zwei Staatsanwälte - weitere Kosten zum Beispiel für die beiden Haupt- und die zwei Ersatzschöffen. Bislang wurden rund 100 Zeugen gehört, manche mehrfach. Für sie und die ihnen beigeordneten Rechtsanwälte wurden Verdienstausfall, Entschädigungen, Fahrtkosten, Stunden- oder Tagessätze fällig. Eine genaue Aufstellung gibt es nicht.

Die Staatsanwaltschaft will drei Hauptangeklagten gewerbsmäßigen Bandenbetrug nachweisen. Sie sollen als Chatbetreiber über ein Geflecht von Scheinfirmen rund 700 000 Handynutzer um über 46 Millionen Euro betrogen haben. Die kamen schnell zusammen, denn pro Flirt-SMS wurden 1,99 Euro fällig. Dabei chatteten die Geschädigten aber nicht mit den erhofften Traumpartnern, sondern mit professionellen Animateuren, deren Profile gefälscht waren.

In der 221 Seiten starken Anklage griff die Staatsanwaltschaft exemplarisch 53 Handynutzer heraus, die im Einzelfall bis zu 25 000 Euro für die SMS-Chats zahlten.

An zumeist drei Sitzungstagen pro Woche geht es um die Kernfrage des Prozesses: Waren die Kunden gutgläubig und wurden getäuscht? - Das wäre der gewerbsmäßige Betrug, Strafandrohung bis zu zehn Jahre Haft. Oder hatten sie ihren Spaß und hätten wissen müssen, dass sie sich auf eine kostenpflichtige Unterhaltung einließen wie etwa bei Sexhotlines?

"Die Verteidigung bestreitet nicht nur die Richtigkeit der Anklage, sondern hegt starke Zweifel an der grundsätzlichen Strafbarkeit solcher sogenannter Mehrwertdienstleistungen", sagt Verteidiger Michael Gubitz und ergänzt: "Wir verfolgen weiter eine Freispruchverteidigung." Er und seine Kollegen halten die Grundannahme der Anklage für widerlegt, dass die Handynutzer auf der Suche nach einem Partner chatteten. "Oft haben Einsamkeit, Frustration, Langeweile und Neugier hinter den SMS gesteckt, und die Chats waren durchaus wertvoll für die Kunden", meinen die Anwälte. Dann aber hätten die Kunden sozusagen selbst Schuld - und die Angeklagten wären freizusprechen.

Die Riege der Verteidiger kämpfte anfangs mit harten Bandagen gegen die beiden Staatsanwältinnen, die den Fall nach aufwendigen Ermittlungen ins Rollen brachten. Beide Seiten fetzten sich monatelang, bis sich eine der Staatsanwältinnen aus Gesundheitsgründen zurückzog und die andere auf Bitten des Gerichts abberufen wurde. Sie hatte mit einem Zeugen vor dessen Vernehmung zu Abend gegessen.

Seit die beiden Juristinnen durch zwei Kollegen ersetzt wurden, sind die Männer unter sich, und der Prozess läuft in ruhigeren Fahrwassern. Die Hauptangeklagten, die fast 20 Monate in Untersuchungshaft saßen, kamen nach etlichen Haftbeschwerden wieder auf freien Fuß. Die Verfahren gegen drei Mitangeklagte wurden gegen Geldauflage eingestellt oder ausgesetzt.

Die mutmaßlichen Drahtzieher der Flirt-SMS-Chats schweigen nach wie vor zu den Anklagevorwürfen. Um ihnen Betrug nachzuweisen, müssen daher Zehntausende SMS akribisch überprüft und die Geschädigten als Zeugen vor Gericht befragt werden. Jahre nach den Chats sollen sie sich erinnern, was sie damals dachten, fühlten und wollten. Denn wenn sie Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Kontaktaufnahme hatten und trotzdem weiterchatteten, liegen weder Irrtum noch Täuschung und mithin auch kein Betrug vor.

Der Ausgang des Verfahrens ist offen. Gespräche zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft über einen Deal und damit eine Verfahrensverkürzung sind schon im Ansatz stecken geblieben. Dass Gericht und Staatsanwaltschaft von einer Verurteilung ausgehen, wie die Verteidigung mutmaßt, wies der Vorsitzende Richter Gunther Döhring gerade erst öffentlich zurück. Wie lange es noch dauern könnte, sagte er dabei nicht. Bisher sind erst die Hälfte der 53 mutmaßlich Geschädigten gehört worden, einer ist inzwischen gestorben.