Anonymer Spender verteilt in Braunschweig Umschläge mit je 10.000 Euro an Menschen und Institutionen in Not. Aber wer steckt dahinter?

Braunschweig. Es muss schon einiges passieren, um Tina Höft aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und so hielt die Leiterin des Stephanus-Kindergartens im Braunschweiger Stadtteil Heidberg das, was sie in dem weißen Briefkuvert aus dem Briefkasten gefischt hatte, auch erst mal für einen Stapel Prospekte. "Eine witzige Idee, habe ich gedacht, die sehen ja aus wie Euro-Scheine."

Doch als sie nach einem Absender suchte, stutzte die 54-Jährige: Das sah nicht nur aus wie Geld, es fühlte sich auch so an. Höft fing an zu zählen und wusste plötzlich, dass sie 10.000 Euro in den Händen hatte - ganz real, in 20 lila 500-Euro-Scheinen. "Ich konnte es erst gar nicht glauben, habe rumgefragt, ob es für jemand anderes sein könnte."

Das war vor gut zwei Wochen. Tina Höft weiß immer noch nicht, von wem die üppige Spende kommt. Sie kam ohne Absender. Aber inzwischen ist klar, dass die Kinder der evangelisch-freikirchlichen Gemeinde nicht die Einzigen sind, die sich über unverhofften Geldsegen freuen können. Was es sonst nur im Märchen und im Kino gibt, ist in Braunschweig wundersame Realität. In den vergangenen drei Monaten hat ein Unbekannter 180.000 Euro an Bedürftige verschenkt, immer anonym und ziemlich konspirativ.

Bedacht wurden unter anderem Kirchengemeinden, ein Gymnasium, die Braunschweiger Tafel und der schwerstbehinderte Tom. Jedes Mal steckte das Geld in einem Umschlag, in der Regel exakt 10 000 Euro.

Jetzt rätselt die ganze Stadt, wer der gute Geist sein könnte. Ist er fromm oder wäscht er Schwarzgeld? Hat er im Lotto gewonnen, nimmt er das Geld den Reichen und verteilt es als eine Art Robin Hood an Arme? Oder ist er vielleicht einfach ein guter Mensch, der den überkommenen Begriff des kirchlichen Almosens in die Spendenwirklichkeit der Gegenwart übersetzt?

Auf jeden Fall ist es eine so schöne Geschichte, dass sie auch über die Stadtgrenzen hinaus für Verblüffung sorgt. Seit Anfang November lassen sich die Spuren des unbekannten Wohltäters zurückverfolgen. Im Briefkasten der Opferhilfe Braunschweig hatte das - nach jetzigem Stand - erste Kuvert mit 10 000 Euro gelegen.

Kurz zuvor war in der "Braunschweiger Zeitung" ein Bericht über einen Handtaschenraub und das traumatisierte Opfer erschienen. "Uns hat die stille Geste berührt", sagt die Vorsitzende Ann-Kathrin Meyenburg, im Hauptberuf Staatsanwältin. Einen Hinweis auf den Gönner hat auch sie nicht. Aber auch keinen, dass das Geld aus einer Straftat stammt. "Dann hätten wir es nicht behalten können." Kurz vor Weihnachten bekam die kleine Helfergruppe - wieder nach einem Zeitungsartikel - erneut 20 mal 500 Euro. Seitdem ist es wie eine Welle.

An den Feiertagen lag im Rathausbriefkasten ein Umschlag mit 50 000 Euro und fünf sorgfältig ausgeschnittenen Zeitungsausschnitten, die auf Hilfsbedürftige und Projekte mit klammen Finanzen hinwiesen, darunter die Stadtbibliothek, ein Verein für Afrika-Hilfe und das Naturhistorische Museum. "Uns fehlte das Geld, um vier Dioramen fachgerecht zu renovieren", sagt Museumsdirektor Ulrich Joger. Die Schaubilder mit ausgestopften Störchen, Wildkaninchen und Feldhase sollen im Zuge einer Umgestaltung des ältesten Naturkunde-Museums der Republik umziehen. Die Planungen laufen schon. "Jetzt können wir etwas richtig Schönes machen", freut sich der Biologie-Professor. Ist der große Unbekannte womöglich auch ein Naturliebhaber?

"Unsere Stadt kann sich glücklich schätzen, dass es hier Menschen gibt, die andere unterstützen und so ein gutes Miteinander in der Stadt fördern", sagt Braunschweigs Sozialdezernent Ulrich Markurth.

Insgesamt 18 Spenden sind bislang bekannt. Zuletzt bekam der ehemalige Domprediger Armin Kraft, der seit fünf Jahren als Spendensammler für die Aktion "Kinder in Armut" unterwegs ist, einen der mysteriösen Briefumschläge. Kurz zuvor hatten sich die vier großen Braunschweiger Innenstadtkirchen geoutet. Auch sie hatten vor Weihnachten einen Batzen Geld erhalten.

Dreh- und Angelpunkt der ungewöhnlichen Spendenaktion ist die "Braunschweiger Zeitung". Denn bei allen Spekulationen über die Spur des Guten in der 250 000-Einwohner-Stadt ist nur eines sicher: Er oder sie liest das Blatt regelmäßig. Die meisten Spenden beziehen sich auf Texte, die kurz zuvor erschienen waren. Manchmal reagiert der Unbekannte auch sehr direkt auf Veröffentlichungen. So fand Kindergarten-Chefin Höft eine Woche nach dem ersten Geldumschlag einen zweiten im Briefkasten. Dieses Mal steckte bei den Scheinen in gleicher Stückelung der Bericht über die anonyme Spende an die Gemeinde. Markiert war ein Satz, in dem es um die Geldsorgen in der Suppenküche im selben Haus ging. Nun kann ein Koch für die monatliche Armenspeisung eingestellt werden. "Wir waren baff und haben uns riesig gefreut", sagt Pfarrer Viktor Sudermann.

Auch die Neumanns kommen so zu einer unerwarteten Zuwendung. "Ich saß im Auto, als der Anruf kam", sagt Claudia Neumann. Der Spendenumschlag hatte im Briefkasten der Redaktion gelegen. Kurz zuvor war ein Bericht über das Schicksal ihres Sohnes Tom erschienen, der vor sieben Jahren beim Schwimmunterricht verunglückt war und seitdem schwerstbehindert ist. Bis heute prozessiert die Familie um den Haftungsanspruch.

+++Schon 180.000 Euro: Rätsel um großzügigen Spender+++

"Das Geld ist ein Segen", sagt die 43-jährige Physiotherapeutin, die noch zwei jüngere Söhne hat. Die Neumanns wollen jetzt die Rollstuhlrampe zum Haus ausbauen, außerdem kann Tom eine zusätzliche hochintensive Therapie machen, die nicht von der Krankenkasse bezahlt wird. "Wir würden uns natürlich gern bedanken", sagt Claudia Neumann. Weil das so direkt nicht geht, will sie eine Annonce in die Zeitung setzen. "Ich bin immer noch verwirrt. Warum macht jemand das?", sagt sie, "in einer Gesellschaft, in der jeder sich selbst der Nächste ist?" Gute Frage. Und wohl die, über die Braunschweiger im Moment am heftigsten spekulieren.

"Ich glaube, dass es jemand ist, der viel Geld hat, krank ist und den Erben eins auswischen will", sagt eine Frau, die an diesem grauen Februartag auf dem Schlossplatz eine Zigarette raucht. Sarah und Kim finden das Spenden-Märchen "einfach nur klasse, egal wo das Geld herkommt. Dass sich der Wohltäter nicht ins Rampenlicht drängt, macht es als Geste umso edler", sagen die Schülerinnen. Andere sind skeptischer, vermuten einen Bluff oder eine Werbekampagne. "Man verschenkt doch nicht einfach Geld, da stimmt doch was nicht", sagt ein älterer Herr. Das Rätselraten ist längst auch zur Moraldebatte geworden. Es gibt Leserbriefschreiber, die fordern, das Geld nicht anzunehmen, solange die Herkunft nicht geklärt ist.

Rechtlich spielt das allerdings keine Rolle. Eine Schenkung darf man annehmen - egal ob anonym oder nicht. Auch die Polizei hat inzwischen Entwarnung gegeben. Es sei kein krimineller Hintergrund erkennbar. Nicht mal steuerliche Probleme gibt es. Der unbekannte Spender hat mitgedacht, der Freibetrag der Schenkungssteuer liegt bei 20 000 Euro für Nicht-Familienmitglieder. "Da will jemand etwas Gutes tun", ist Hans-Jürgen Kopkow überzeugt. Der Pastor der St.-Markus-Kirche in der Südstadt hatte einen Spendenumschlag zufällig hinter den Gesangbüchern entdeckt, als er abends die Kirche abschließen wollte. "Vielleicht ist es bei uns gelandet, weil die Kirche offen war", sagt der 54-Jährige. Vielleicht habe der Mensch auch auf einen Spendenaufruf im Gemeindebrief nach einem Rohrbruch reagiert. Einen Verwendungshinweis jedenfalls gibt es nicht. "Das bedeutet wohl, dass es in unser Ermessen gestellt ist", sagt der Theologe und freut sich über "das Himmelsgeschenk".

Inzwischen gibt es auch Mutmaßungen, dass es nicht nur einen geheimnisvollen Wohltäter gibt, sondern mehrere. "Ich bekomme häufiger Spenden ohne Absender", sagt der ehemalige Domprediger Kraft und spricht von einer "ansteckenden Spendengesundheit". Wie die meisten Empfänger der unverhofften Wohltaten plädiert er dafür, die Anonymität des Spenders zu respektieren - und zu wahren. "Sonst ist es wie bei der Geschichte von den Heinzelmännchen, die verschwinden, wenn man sie beobachtet", sagt Kindergartenleiterin Tina Höft.

Der Lokalchef der "Braunschweiger Zeitung", Henning Noske, will zwar weiter über das Spenden-Märchen berichten, den guten Geist aber nicht enttarnen. Der aktuelle Ausnahmezustand in der alten Löwenstadt offenbart eine Sehnsucht nach einem Wunder, das man eigentlich nicht glauben kann - aber glauben möchte. Das geht sogar so weit, dass sich eine Leserbriefschreiberin direkt an den "lieben Spender" wendet: "Lüfte bitte nie das Geheimnis um deine Person, denn es ist der Zauber und die Illusion, die unsere Stadt in ein positives Licht setzt."