Ein Architekt weist mit einer Formel nach, dass die Kosten höher sind als die Einsparungen. Eine Baubehörde folgt seinem Rat

Kaum jemand kennt das kleine Dillenburg. Allenfalls als Urlaubsort – in der hessischen Stadt am Rande des Westerwalds beginnt nämlich der Fernwanderweg Rothaarsteig. Doch jetzt, in der Ära der Energiewende, fängt in dem 23.749 Einwohner zählenden Ort ein kleines Stück Geschichte an: Architekt Karim El Ansari sorgte mit einem mathematischen Modell für Aufsehen. Zwei ältere Mehrfamilienhäuser dienten ihm dabei als Versuchsobjekte, um zu zeigen, dass bei einer energetischen Sanierung auf die nach der Energieeinsparverordnung zwingend vorgeschriebene vollständige Dämmung der Fassade verzichtet werden kann. „Wir konnten rechnerisch nachweisen, dass eine komplette Dämmung unwirtschaftlich ist“, sagt der Herborner Architekt. „Der Lahn-Dill-Kreis hat deshalb eine Befreiung von den Dämmvorgaben erteilt.“

Hohe Kosten für das Dämmen belasten Vermieter und Mieter

Die Entscheidung der Baubehörde des Kreises im westlichen Hessen findet bundesweit Bedeutung. Bislang waren solche Ausnahmegenehmigungen nur selten und dann überwiegend für Einfamilienhäuser erteilt worden. „Mit unserem mathematischen Modell können wir nachweisen, dass sich bei vielen Modernisierungsvorhaben von Mehrfamilienhäusern eine vollständige Dämmung wirtschaftlich nicht rechnet“, sagt El Ansari. Die Entscheidung der Behörde in Wetzlar wird deshalb in der Immobilienbranche aufmerksam verfolgt. „Wir beobachten das Geschehen in Dillenburg mit großem Interesse“, sagt Matthias Böning, Vorsitzender des Fachgremiums Nachhaltigkeit, Energie und Umwelt im Zentralen Immobilienausschuss (ZIA), dem Dachverband der Immobilienbranche.

Wohnungsunternehmen und private Eigentümer ächzen unter den Vorgaben der Energieeinsparverordnung (EnEV). Sie schreibt vor, dass bei einer umfassenden energetischen Modernisierung von Ein- und Mehrfamilienhäusern deren Fassaden gänzlich gedämmt werden müssen. Die Bundesregierung will so den Erdgas- und Heizölverbrauch reduzieren. Das bei der Verfeuerung der beiden fossilen Brennstoffe entstehende Kohlendioxid steht im Verdacht, zur globalen Klimaerwärmung beizutragen.

Das Aufbringen der zusätzlichen Dämmung verursacht laut El Ansari Zusatzkosten im fünf- bis sechsstelligen Bereich. Die Wohnungswirtschaft läuft deshalb Sturm gegen die Dämmvorschrift. „Mit Dichten und Dämmen allein werden wir die Ziele der Bundesregierung bei der Kohlendioxid-Reduktion nicht erreichen“, sagt Axel Gedaschko, Präsident des GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen. Die hohen Kosten belasteten die Unternehmen und deren Mieter. „Wenn Wohnen bezahlbar bleiben soll, müssen wir die klimapolitischen Vorgaben auch anders erreichen“, sagt Gedaschko. „Immer schärfere und bürokratische Anforderungen treiben die Investitionskosten in die Höhe und machen den Neubau und die Sanierung von Gebäuden unwirtschaftlich“, sagt auch ZIA-Experte Böning.

Damit konterkarierten die scharfen Vorgaben der EnEV deren Ziele, sagt El Ansari. „Weil Eigentümer bislang bei umfassenden Modernisierungsvorhaben fast immer gezwungen sind, die Häuser auch vollständig zu dämmen, verzichten viele Besitzer ganz darauf, ihre Immobilien auf Vordermann zu bringen.“ Dies bestätigt eine Studie des Darmstädter Instituts für Wohnen und Umwelt (IWU). Danach wurden von 2005 bis 2012 pro Jahr nur knapp 0,8 Prozent der 15,6 Millionen Wohngebäude im Land saniert, die bis 1995 errichtet wurden.

Allerdings gilt auch bei der EnEV das Wirtschaftlichkeitsgebot. „Wird nachgewiesen, dass sich die Mehrkosten für die Dämmung nicht während der voraussichtlichen Haltbarkeit der Dämmstoffe rentieren, müssen die Baugenehmigungsbehörden einem Verzicht auf eine vollständige Dämmung der Fassaden zustimmen“, sagt der Architekt. Bislang musste dieser Nachweis in aufwendigen Einzelfallberechnungen erbracht werden. Mit dem neuen mathematischen Modell sei dies nun sehr viel einfacher. „Wir konnten bei beiden Häusern nachweisen, dass sich die Zusatzkosten für die Dämmung nicht während deren voraussichtlicher Haltbarkeitsdauer amortisiert hätten“, sagt El Ansari. Stattdessen entwarf das Architekturbüro für beide Häuser ein Modernisierungskonzept, das vor allem auf dem Austausch der veralteten Heizungsanlagen und einer zusätzlichen Dämmung der obersten Geschossdecke basiert.

„Es kommt immer auf die Einzelfallbetrachtung an“, sagt Lars Beckmannshagen vom Zentrum für Energie, Bauen, Architektur und Umwelt (ZEBAU GmbH). In Dillenburg sei es insbesondere der städtbauliche Kontext gewesen, der berücksichtigt wurde. Mit Sicherheit reiche es nicht, Modernisierungsvorhaben nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten. „Es ist wichtig, die Bauphysik im Auge zu behalten, damit sich nicht durch Taupunkte oder Kältebrücken Schäden einschleichen, die zu weit höheren Kosten führen können“, rät der Diplom-Architekt, der seit 2008 zu den von der Hamburgische Investitions- und Förderbank (IFB) autorisierten Qualitätssicherern gehört. Über sie soll das energetisch optimierte Bauen gewährleistet werden. Die EnEV sehe jedenfalls schon jetzt Ausnahmeregelungen vor, sobald es sich um Gebäude handle, die als erhaltenswert gelten. „Es gibt beispielsweise das Förderprogramm KfW Effizienzhaus Denkmal, das dieses berücksichtigt“, so der Energieberater.

Aus der Beratungspraxis weiß er, wie schwer es ist, den Durchblick zu bewahren. „Eigentümer sollten immer zuerst den Rat eines Profis einholen. Er kann sagen, was sich rechnet und welche Förderungen abgerufen werden können.“ Eine Expertenliste ist zum Beispiel hinterlegt unter www.energie-effizienz-experten.de