Ab morgen wird das globale Dorf neu durchnummeriert. Das vernetzte Haus rückt dankt neuer IP-Adressen näher

Hamburg. Was tut man, wenn in einem Dorf mit dreistelligen Rufnummern der eintausendste Telefonanschluss geschaltet werden soll? Man muss den Zahlenraum vergrößern und vierstellige Rufnummern einführen. Genau das geschieht gerade im Internet, nur dass es dabei nicht um Telefonnummern geht, sondern um Computeradressen nach dem Internetprotokoll (IP). Über vier Milliarden solcher Adressen gibt es nach der 30 Jahre alten IP-Version 4 (IPv4), doch die sind seit Anfang Februar dieses Jahres alle vergeben. Seit 15 Jahren wird deshalb schon an der IP-Version 6 (IPv6) gearbeitet, die neben vielen Verbesserungen die Adressknappheit für alle Zeiten beheben soll.

Seit Jahren schon bereiten Internetdienstleister und Netzwerkbetreiber ihre Maschinen und Programme auf den Wechsel der Internetprotokolle vor. Ob alles funktioniert, wissen wir spätestens morgen Abend. Denn morgen ist der "World IPv6 Day". Von da an betreiben weltweit die großen Firmen, so auch die Deutsche Telekom, das Netz mit beiden Protokollen gleichzeitig - und wollen herausfinden, was passiert.

"Dual-Stack"-Betrieb nennen die Netztechniker den gleichzeitigen Betrieb von IPv4 und IPv6. Ein Doppelbetrieb, der nach erfolgreichem Test schon bis Ende des Jahres in vielen Netzen der Regelfall werden soll. Ob das alte Internetprotokoll jemals außer Betreib genommen wird, kann bislang niemand sagen. Zu tief in den Systemen verankert ist der alte Standard, sodass in absehbarer Zeit jedenfalls auf IPv4 nicht verzichtet werden kann.

340 Sextillionen IP-Adressen gibt es nach dem neuen System. Das ist eine Zahl mit 39 Stellen. Jedem Menschen auf der Erde könnten rein rechnerisch damit 340 Millionen Internetadressen zugeordnet werden. Aber wofür braucht der Mensch das? Nicht für sich, sondern für die Dinge, sagen Internet-propheten wie Vinton Cerf, einer der Erfinder des Internets. Cerf, der jetzt in Diensten des Suchmaschinenkonzerns Google steht, propagiert mit dem Umstieg auf IPv6 einen Epochenwandel: vom Internet der vernetzten Computer zum Internet der Dinge.

Den praktischen Anfang könnten zum Beispiel die rund 40 Millionen intelligenten Stromzähler machen, die in deutschen Haushalten laut EU-Vorschrift nach und nach installiert werden müssen. Mit jeweils einer eigenen Internetadresse versehen könnten sie vernetzt werden und minutiös den Stromverbrauch steuern und zum Beispiel je nach günstigstem Tarif sogar tageszeitbezogen den Anbieter wechseln. Ganz ohne menschliches Zutun.

Die Idee, aus der Welt der Dinge eine informationelle Umgebung mit selbstständig untereinander kommunizierenden Dingen zu machen, ist nicht neu. Schon 1966 schrieb der deutsche Physiker und Schöpfer des Begriffs der Informatik, Karl Steinbuch: "Es wird in wenigen Jahrzehnten kaum mehr Industrieprodukte geben, in welche die Computer nicht hineingewoben sind, etwa so, wie das Nervensystem in Organismen hineingewoben ist."

In jüngerer Zeit populär wurde der Begriff vom "Internet der Dinge" durch Projekte am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Dort wird seit 1999 eine firmenübergreifende RFID-Infrastruktur entworfen. Diese basiert auf einer neuen Generation von Funkchips, die fester Bestandteil von Produkten aller Art sind und die Lagerlogistik vieler Firmen bereits revolutionieren. Friedemann Mattern und Christian Flörkemeier von der ETH Zürich bringen die Entwicklung so auf den Punkt: "Das Internet der Dinge steht für eine Vision, in der das Internet in die reale Welt hinein verlängert wird und viele Alltagsgegenstände ein Teil des Internets werden."

Gar nicht so begeistert vom Konzept der kommunizierenden und vielleicht einst auch "denkenden" Dinge sind die Datenschützer. Ihr Vorbehalt: Mit dem neuen Internetprotokoll Version 6 ist es möglich, jedem Internetbenutzer lebenslang eine Internetadresse zuzuordnen - und damit lebenslang seine Internetaktivitäten nachzuvollziehen. Bislang nämlich wurde jedem Internetbenutzer auch aufgrund der Adressknappheit für jede Internetsitzung eine andere, gerade nicht benutzte IP-Adresse zugeteilt. Das ist nach Einführung von IPv6 nicht mehr nötig, sodass eine lebenslange Internetadresse zu den "personenbezogenen Daten" gezählt werden müsse. Johannes Caspar, Hamburgischer Beauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit, warnt: "Bisher hat der informierte und engagierte Nutzer Möglichkeiten an der Hand, sein informationelles Selbstbestimmungsrecht auf einen anonymen Internetzugang zu schützen. Mit der Einführung des IPv6-Protokolls droht dies nun unter die Räder zu kommen, da die neuen Internetadressen viel mehr über den Nutzer verraten und ihn lebenslang identifizieren können."

Aufhalten werden solche Vorbehalte die Vernetzung der Dinge kaum. Viel zu attraktiv erscheinen die Geschäftsmodelle, die dadurch möglich werden. Der Boom der Smartphones - ein bereits marktfähiges Anwendungsfeld - ist dabei nur ein Anfang. Demnächst könnte auch jeder Staubsauger seine eigene Internetadresse haben.