Durchschnittlich 18-mal im Jahr gehen die Deutschen zum Arzt. Alle wollen dabei die bestmögliche Behandlung. Aber was darf sie kosten?

Hamburg. Krankenkassenbeiträge, steigende Kosten, die Möglichkeiten der Prävention, Ärztemangel - zum Auftakt der Medizinserie lud das Abendblatt führende Hamburger Experten ein, um über die wichtigsten Themen der Gesundheitspolitik zu diskutieren. Und es wurde leidenschaftlich argumentiert und gestritten beim Gesundheitsgipfel des Hamburger Abendblatts. Die permanent steigenden Krankenkassenbeiträge sind Bürgern und Krankenkassen ein Dorn im Auge. Von der Gesundheitspolitik haben die meisten die Nase voll oder winken ab: zu kompliziert. Dabei kann mit einem Federstrich in einem Gesetz, bei jeder noch so kleinen Reform der Arztbesuch aufwendiger, die Abrechnung mit der Krankenkasse komplizierter werden.

Wird sich Otto Normalversicherter die beste Medizin in Zukunft noch leisten können? Wie motiviert man Menschen, zum aufgeklärten Patienten zu werden? Welchen Sinn haben die Prävention, die Vorbeugung gegen Erkrankungen, und die Früherkennung? Warum läuft im deutschen Gesundheitswesen so viel schief? Und: Was unterscheidet Hamburg in Bezug auf die Gesundheit vom Rest der Republik? Das diskutierte der Hamburger Gesundheits- und Sozialsenator Dietrich Wersich mit den Vorständen der Krankenkassen DAK und Techniker, Prof. Herbert Rebscher und Dr. Jens Baas, sowie dem Chef der Hamburger Ärztekammer, Dr. Frank Ulrich Montgomery, dem Hamburger HNO-Arzt Dr. Dirk Heinrich (Vorsitzender NAV-Virchow-Bund), Dieter Bollmann (Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg). Dr. Claudia Brase (Geschäftsführerin der Hamburgischen Krankenhausgesellschaft) und Christoph Kranich (Verbraucherzentrale Hamburg).

Bei den neuen Belastungen durch die zu Jahresbeginn erneut gestiegenen Krankenkassenbeiträge gab es keine Entwarnung: Senator Wersich sagte, immerhin seien die Leistungen nicht eingeschränkt worden. "Die demografische Entwicklung wird mehr Ressourcen brauchen. Die Menschen wollen nicht, dass wir an der Gesundheit sparen. Deshalb müssen wir schauen, wie wir beides unter einen Hut bekommen." Die Gesellschaft altert. Und wenn immer mehr und immer ältere Menschen ärztliche Behandlungen benötigen, werden die Kosten zu einer Herausforderung für das gesamte Gesundheitswesen. Der Kammerchef und Arzt Montgomery warnte: "Wir wissen alle, dass medizinischer Fortschritt sich ganz stark auf die Kosten auswirkt. Die Bevölkerung in Deutschland wird sich vermindern, aber diese Menschen haben einen erhöhten Versorgungsbedarf. Da aber nur ein bestimmter Teil der Bevölkerung das Geld dafür aufbringt, steigen die Belastungen des Einzelnen." Dieser demografische Faktor hole uns in zehn bis 20 Jahren ein.

Bei den gesetzlichen Krankenkassen ist die Sorge wegen der vielen Gesundheitsreformen ähnlich groß. Durch den noch zu Zeiten der Großen Koalition eingeführten Gesundheitsfonds erheben alle Kassen denselben Monatsbeitrag. Er stieg zum 1. Januar wieder von 14,9 auf 15,5 Prozent vom Bruttoeinkommen eines Versicherten. Dabei zahlen die Arbeitnehmer 8,2 Prozent, die Arbeitgeber 7,3 Prozent. Die Kassen dürfen außerdem Zusatzbeiträge (meist 8 Euro pro Monat) erheben, falls sie mit dem Geld aus dem Gesundheitsfonds nicht auskommen. DAK-Chef Rebscher sagte: "Uns wäre es lieber, wenn wir wieder selbst die Beiträge festsetzen könnten.

Es gibt in der gesetzlichen Krankenversicherung niemanden, der nicht gerne wieder die Finanzautonomie über die Beiträge hätte. Unser System ist extrem fehlgesteuert. Es gibt einen Einheitspreis und die Frage, ob man Zusatzbeiträge erhebt oder nicht. Dabei reden wir von einem Preisunterschied von ungefähr einem Prozent. Das ist eine absurde Vorstellung, wenn man sagt, über die Zusatzbeiträge hätte man Wettbewerb."

Die Techniker Krankenkasse, die 7,6 Millionen Menschen versichert und einen Zusatzbeitrag für 2011 ausschließt, geht noch einen Schritt weiter. TK-Vorstand Baas sagte: "Ein sinnvoller Wettbewerb zwischen den Krankenkassen findet nicht nur über den Preis, sondern auch über die Qualität statt. Es kommt darauf an, dass wir mit unseren Vertragspartnern bei Ärzten, Kliniken und anderen eine hochwertige Versorgung für unsere Versicherten gestalten können und uns damit im Wettbewerb differenzieren."

+++ Am eigenen Leibe +++

Ärztefunktionär Montgomery beklagte: "Wir haben eine Vollkaskomentalität, die sich oft so äußert: Da sagt jemand, ich habe 30 Jahre eingezahlt, jetzt will ich auch was wiederhaben. Und wir müssen den Patienten sagen: Diese Krankenversicherung basiert auf Solidarität. Nicht wer viel eingezahlt hat, bekommt auch viel. Mich erstaunt immer, wie wir bei medizinischen Entscheidungen den mündigen Bürger voraussetzen, aber ihn bei den finanzpolitischen Fragen entmündigen."

Senator Wersich räumte ein: "Die Solidarität der Gesunden mit den Kranken ist genauso wichtig." Die politischen Entscheidungen würden allerdings überschätzt.

Zustimmung kam von HNO-Arzt Heinrich: "Es geht um Eigenverantwortlichkeit. Ich glaube, dass nicht jeder Patient mit jeder Kleinigkeit zum Arzt gehen sollte. Wir haben einen Umgang mit den Ressourcen im Gesundheitswesen, der diese Vollkaskomentalität widerspiegelt." Die Zahl der Arztkontakte ist in Deutschland mit 18 pro Jahr deutlich höher als in anderen Ländern mit vergleichbar guten Gesundheitssystemen.

Heinrich liebäugelt mit der sogenannten Kostenerstattung. Dabei kann auch der gesetzlich versicherte Patient die Rechnung des Arztes erst bezahlen und sich dann von seiner Kasse erstatten lassen. Wenn es das flächendeckend gäbe, so Heinrich, "könnten wir als Ärzte transparent machen, was eine bestimmte Leistung kostet." Das würde bei den Patienten den Blick für die Kosten im Gesundheitswesen schärfen. Der Hamburger KV-Chef Bollmann sagte: "Jeder wüsste gerne, was es kostet. Das weiß der Patient nicht, das weiß der Arzt nicht. Der Arzt erfährt es erst nach Monaten bei der Abrechnung, wenn die Leistung längst erbracht ist." Verbraucherschützer Kranich kann der Kostenerstattung nichts abgewinnen: "Dafür wird viel Propaganda gemacht. Ich bin sehr skeptisch gegenüber finanziellen Anreizen. Ich glaube nicht, dass man das Gesundheitswesen über finanzielle Anreize steuern kann. Gesundheit sollte nicht zur Ware werden, weil man sie nicht freiwillig kauft. Gesundheit funktioniert nicht wie Schuhekaufen."

DAK-Chef Rebscher warnte auch davor, die Mündigkeit gerade junger Leute zu überschätzen: "Man kann als junger Mensch nicht beurteilen, ob man bestimmte Leistungen später einmal braucht, ob man nach einem Schlaganfall, den man erleiden könnte, noch Logopädie bekommt, um das Sprechen wieder zu trainieren. Ich möchte kein Gesundheitssystem, in dem ein 20-Jähriger entscheidet, was er als 70-Jähriger in der Krankenversicherung gerne abgedeckt hätte."

In der gezielten Vorbeugung von Krankheiten steckt möglicherweise ein Schlüssel, um Kosten im Gesundheitswesen zu begrenzen. Heinrich sagte: "Nehmen Sie das Thema Zahnerkrankungen in Schweden. Die Prävention begann mit dem Fluoridieren des Trinkwassers, es gab Aufklärung in Kindergärten, Zahnputzprogramme in Schulen. Aus der gesetzlichen Krankenversicherung wurden Leistungen herausgenommen nach dem Motto: Wenn ihr das nicht macht, gibt's auch kein Geld fürs Bohren. Lohnen sich finanzielle Anreize für Prävention doch?"

Senator Wersich sagte, aus diesem Grund habe man in Hamburg den Pakt für Prävention geschlossen, "um gerade die Menschen zu erreichen, die möglicherweise einen anderen kulturellen Hintergrund haben." Trotzdem sagte Wersich: "Ich glaube nicht, dass man durch Bestrafung oder Belohnung die Menschen dazu bekommt, gesund zu leben. Das beste Beispiel ist das Rauchen: Es ist ungesund, kostet Geld, man macht es trotzdem." Auf das Dilemma der Prävention wies Montgomery hin: "Sie müssen die Prävention bei Kindern und Jugendlichen betreiben und fahren möglicherweise erst 30 oder 40 Jahre später die Ergebnisse davon ein. Wenn Aktion und Belohnung so weit auseinanderliegen, begreift der moderne Mensch den Kontext nicht mehr."

Was die Gesundheit betrifft, ist Hamburg im Bundesvergleich eine Ausnahme: große Krankenhausdichte, Allgemeinmediziner und Fachärzte in praktisch allen Stadtteilen und ein großes Gesundheitsbewusstsein der Bürger. Die Geschäftsführerin der Krankenhausgesellschaft, Claudia Brase, sagte: "Die medizinischen Angebote sind besser als auf dem flachen Lande, wo die Patienten froh sind, wenn sie überhaupt noch einen Arzt erreichen." Allerdings mache es die Politik den Kliniken immer schwerer: "Die Patienten entscheiden heute schon mit den Füßen, wo sie sich behandeln lassen wollen. Wenn Patienten für ambulante Behandlungen das Krankenhaus aufsuchen, muss dies auch angemessen bezahlt werden. Die medizinische Entwicklung führt zu mehr ambulanten Spezialangeboten am Krankenhaus. Unsere Gesetze sollten dieser Entwicklung Rechnung tragen." Die Kliniken seien zu Wirtschaftsunternehmen geworden und bräuchten als solche verlässliche Rahmenbedingungen. Immerhin habe der vielfach beklagte Ärztemangel in Hamburg noch nicht so durchgeschlagen. "Hier arbeitet man doch gerne", sagte Brase. Aber: "Wir bräuchten mehr Ärzte und Pflegekräfte, als derzeit auf dem Markt sind."

Viele hoch qualifizierte und in Deutschland ausgebildete Mediziner gingen gerne ins Ausland, sagte Montgomery, selbst ausgebildeter Radiologe. Es hake in der Ausbildung der künftigen Ärzte: "Man muss schon im Studium den Samen dafür legen, dass jemand nicht ausschließlich Transplantationschirurg werden will. Es muss Anreize geben, dass er sich auch als Landarzt niederlässt. Heute lernt man sechs Jahre Hochleistungsmedizin an der Uni. Und die Studenten ahnen gar nicht, dass es da noch andere faszinierende Fachgebiete gibt, in denen man nicht jeden Tag drei Menschenleben rettet."

Eine ungleiche Verteilung von Ärzten über das Hamburger Stadtgebiet hat der niedergelassene HNO-Arzt Heinrich ausgemacht: "Es kann doch nicht sein, dass wir eine Ärztekonzentration im Hamburger Westen haben, in Eimsbüttel und in Eppendorf - und einen Ärztemangel auf der Veddel, in Jenfeld und in Billstedt. Ich bin damals bewusst nach Horn gegangen. Aber die ökonomischen Bedingungen dort sind nicht so, wie sie sein sollen."

Während Kassenchef Rebscher sagte, dass es noch nie so viele Ärzte in Deutschland gegeben habe wie derzeit, konterte Ärztekammer-Chef Montgomery: "In den letzten zehn Jahren hat sich das Verhältnis von Ärzten und Ärztinnen von 70 zu 30 auf 60 zu 40 Prozent verändert. Wir haben im selben Zeitraum 6,3 Prozent mehr Köpfe, mehr Ärzte, aber 1,3 Prozent weniger Arbeitszeit." Auch in der Medizin werde vermehrt halbtags gearbeitet.

Mitten in der Diskussion um die Kosten im Gesundheitswesen, um die Drohkulisse einer alternden Gesellschaft und die Frage nach dem mündigen Patienten entfuhr Senator Wersich eine Bemerkung, die einen Funken Hoffnung versprühte: "Gesundes Leben und langes Leben - das schließt sich ja nicht aus."

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