Der Betroffene hat sich oft sein eigenes Weltbild gemacht, Angehörige leben in der Realität. Sie sollten den Kranken ihre Illusionen lassen.

Hamburg. "Demenz ist nicht nur schrecklich", meint der Psychiater Manfred Lütz. Ein Satz, den Doris Reinhard, Leiterin der Beratungsstelle Demenz im Albertinen-Haus, so nicht stehen lassen mag: "In der schweren Phase der Demenz merkt der Betroffene nicht mehr, dass er vergesslich ist. Dann geht es ihm gut, weil er ein Bild von sich hat, als wäre er kompetent, jung, dynamisch, mitten im Leben stehend und könnte alle Aufgaben bewältigen, die ihm gestellt werden." Auch wenn die Wirklichkeit ganz anders aussieht. Und diese Wirklichkeit ist das, was die Angehörigen sehen.

"Die Ehepartner oder die Kinder müssen die Auswirkungen der Krankheit tragen und würden niemals sagen: Demenz ist nicht nur schrecklich. Sie leiden darunter, dass sie einen geliebten Menschen langsam verlieren, dass er nicht mehr der ist, den sie über Jahrzehnte gekannt haben", sagt Reinhard. Besonders zu Beginn der Erkrankung leiden die Betroffenen sehr darunter, da sie ihre zunehmenden Defizite bemerken. Ungeduldige Bemerkungen oder das fehlende Verständnis der Umwelt machen dem Kranken immer wieder bewusst, dass er etwas falsch gemacht oder vergessen hat. Wie er damit umgeht, ist dann eine Frage der Persönlichkeit. Reinhard: "Die einen ziehen sich zurück und weinen, andere werden wütend."

Wenn Rainer Ludwig, dessen Mutter Margot, 89, in der Wohngemeinschaft für Demenzkranke im Max-Herz-Haus des Albertinen-Hauses lebt, auf die vergangenen Jahre zurückblickt, hat er vor allem eine Erfahrung gemacht: dass sie zunehmend von anderen Menschen abhängig wird und ihre Eigenständigkeit verliert. "Wie viel sie an Eigenverantwortlichkeit abgibt, bekommt sie wahrscheinlich nicht mehr so hundertprozentig mit, weil sie sich ihr eigenes Weltbild zurechtzimmert, in dem Tätigkeiten vorkommen, die sie schon lange nicht mehr macht, zum Beispiel für andere einkaufen oder in die Stadt fahren. Auf diese Weise spürt sie ihre Defizite nicht mehr so stark." Dass die alte Dame unter ihrer Erkrankung leidet, den Eindruck hat ihr Sohn jedoch nicht.

"An ihrem Wesen hat sich nichts Grundlegendes geändert. Sie ist der freundliche, fröhliche und kontaktfreudige Mensch geblieben, der sie immer war", sagt Ludwig. Diese Freundlichkeit kommt einem auch entgegen, wenn man Frau Ludwig in der Wohngemeinschaft besucht. Mit einem fröhlichen Lachen begrüßt sie die Besucher und lässt sich sofort freudig auf ein Gespräch ein.

Rainer Ludwig hat für sich einen Weg gefunden, mit der Erkrankung seiner Mutter umzugehen. "Es bringt gar nichts, falsche Behauptungen zurechtzurücken. Wenn sie mir erzählt, sie habe für die ganze Belegschaft eingekauft, dann sage ich: Ja, das finde ich toll. Denn auf der rationalen Ebene dagegen an zu argumentieren, ist völlig sinnlos und bringt nichts."

Dass man mit dem erkrankten Partner anders umgehen muss als früher, ist für viele Angehörige eine schwere Aufgabe. "Die Kommunikation, die man jahrzehntelang gewohnt war, funktioniert nicht mehr, und das macht den Angehörigen unheimlich zu schaffen. Sie müssen lernen und verstehen, dass man den Demenzkranken nicht wieder in die Realität zurückholen kann, sondern auf ihn zugehen muss", sagt Doris Reinhard.

Die Demenzexpertin erläutert das an einem Beispiel: "Häufig beginnen Diskussionen: ,Heute um zehn gehen wir zum Arzt', und der Kranke sagt: ,Das hast du mir nicht gesagt.' Ich als Gesunder weiß, dass ich das gesagt habe und der Kranke es vergessen hat. Das Paradoxe der Demenz ist: Aus seiner Sicht hat jeder von beiden recht. Aber diese unnützen Diskussionen auf der Sachebene sorgen dafür, dass die Emotionen steigen und beide wütend werden. Solche Situationen kann man nur lösen, indem man Diskussionen vermeidet. Denn sie haben immer das Ziel, dass ich den anderen von meinen Argumenten auf der rationalen Ebene überzeugen kann. Aber diese rationale Einsicht hat ein Demenzkranker nicht mehr."

In seiner Welt geht es nur um Gefühle, jetzt und hier, in diesem Augenblick, positiv wie negativ. Diejenigen, die die Kranken betreuen, müssen damit umzugehen lernen. "Wenn jemand Angst hat, ist es wichtig, die Ursache für die Gefühlsausbrüche zu erforschen, zu verstehen und dann zu versuchen, den Kranken zu beruhigen", sagt Doris Reinhard. Und Rainer Ludwig ergänzt, dass es sehr wichtig sei, dem Kranken Verständnis und Geborgenheit zu vermitteln.

Um sich wohlzufühlen, brauchen die Kranken auch eine Aufgabe. "Demenzkranke Menschen möchten zum Gelingen des Alltags beitragen und gebraucht werden. Wenn sie etwas Sinnvolles tun wie die Geschirrspülmaschine ausräumen oder Wäsche zusammenlegen, erhöht das das Wohlbefinden und stärkt das Selbstwertgefühl", sagt Brigitte Schmidt, eine der fünf sozialpädagogischen Alltagsbegleiterinnen, die die Bewohner der Demenz-WG im Max-Herz-Haus betreuen.

Um dabei die passende Aufgabe zu finden, sei es wichtig, die Lebensgeschichte der Kranken mit einzubeziehen. Bei Margot Ludwig merkt man, dass sie früher in ihrer Kirchengemeinde Gruppen organisiert und sie geleitet hat. "Sie übernimmt gerne Verantwortung und hat das Bedürfnis, für Ordnung zu sorgen. Wenn sie Krümel unter dem Tisch entdeckt, sorgt sie sofort mit Handfeger und Schaufel für Abhilfe, und wenn sich jemand nach ihrer Ansicht nicht ordentlich benimmt, hält sie mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg", sagt Brigitte Schmidt. Denn: Die bisherigen Wertvorstellungen der Menschen bleiben trotz ihrer Demenz erhalten.

So sind es viele kleine Alltagsdinge, die zum Wohlbefinden des Demenzkranken beitragen. Und wenn es dem Angehörigen gelingt, den Kranken zu verstehen, könnten beide wieder schöne Momente miteinander teilen, zum Beispiel einen gemeinsamen Tanz genießen, sagt Doris Reinhard. "Aber das Grundverständnis für die Krankheit und der veränderte Umgang mit dem Angehörigen müssen sich erst entwickeln. Und das ist ein langer, schmerzhafter Prozess."

Am kommenden Donnerstag startet der Film "Small World" in deutschen Kinos. Gérard Depardieu spielt dort einen Demenzkranken - eine Verfilmung des gleichnamigen Bestsellers von Martin Suter