In einer Weltpremiere probieren die Hamburger Forscher, das Immunsystem der Patienten auszutricksen und die multiple Sklerose dadurch zu stoppen

Ob Rheuma, Typ-1-Diabetes oder multiple Sklerose (MS) - so unterschiedlich diese Krankheiten auch sind, eines haben sie gemeinsam: Sie entstehen, weil das Immunsystem der Patienten körpereigenes Gewebe angreift. Jetzt wollen Forscher am Universitätsklinikum Eppendorf als Erste weltweit ein neues Verfahren testen, um bei einer solchen Autoimmunerkrankung das Immunsystem des Patienten wieder auf den richtigen Weg zu bringen. "In unserer Studie wollen wir erreichen, dass bei Patienten mit multipler Sklerose die Autoimmunreaktion gegen bestimmte Strukturen in Gehirn und Rückenmark abgeschaltet wird", sagt Prof. Roland Martin, Direktor des Instituts für Neuroimmunologie und Klinische Multiple-Sklerose-Forschung am UKE. Drei Jahre hat die Vorbereitung gedauert, jetzt soll die Untersuchung beginnen.

Weiße Blutkörperchen werden mit Proteinen markiert

Für die neue Methode werden körpereigene Zellen des Patienten verwendet. "Wir entnehmen ihm Blutzellen über eine Prozedur, die sich Leukapherese nennt und so ähnlich funktioniert wie eine Blutspende. Diese Zellen werden abgenommen, die roten Blutkörperchen entfernt und die weißen Blutkörperchen mit den Zielantigenen markiert. Das sind die Eiweißsubstanzen, die das Immunsystem des MS-Patienten angreift", erklärt Martin. Zusätzlich wird eine chemische Substanz verabreicht, die dazu führt, dass diese Peptide oder Proteine auf der Oberfläche der Zellen sozusagen festgeklebt werden. Anschließend gibt man dem Patienten diese eigenen, vorbehandelten Zellen zurück. Dann passiert Folgendes: Die Zellen sterben innerhalb eines Tages ab. "Dieser sogenannte apoptotische Zelltod ist ein normaler Prozess, der dauernd in unserem Körper abläuft, überall dort, wo Zellen zugrunde gehen und durch neue Zellen ersetzt werden", erklärt der Neurologe.

Das Ungewöhnliche an diesem Mechanismus, das sich die Forscher zunutze machen: Das Immunsystem greift diese absterbenden Zellen nicht an. "Der apoptotische Zelltod eigener Zellen ist ein ganz wichtiges Signal, um das Immunsystem ruhigzustellen. Und indem wir die absterbenden Zellen mit den Antigenen aus dem Gehirn verbinden, versuchen wir, das Immunsystem wieder in den Zustand zurückzuversetzen, in dem es bei MS-Patienten das Gehirn in Ruhe lässt", erklärt der Neurologe. Das Immunsystem hält dann nur gegen diese bestimmten Zellen still. Wenn die Methode funktioniert, könnte sie auch bei anderen Autoimmunerkrankungen angewendet werden, meint Martin. Es gebe bereits eine US-Arbeitsgruppe, die an einer ähnlichen Methode bei Typ-1-Diabetes arbeite, aber nicht so weit sei wie die UKE-Forscher.

Die Forscher hoffen auf eine Wirkungsdauer von mindestens einem Jahr

Wie dauerhaft der Erfolg des neuen Verfahrens sein könnte, ist noch offen. "Im Tiermodell reicht eine Behandlung, dann werden die Tiere nicht mehr krank und sind geschützt. Beim Menschen ist unsere Erwartung, dass die Wirkung mindestens ein Jahr anhält, hoffentlich länger, vielleicht sogar dauerhaft", sagt Martin.

Für die Studie suchen die UKE-Forscher noch Teilnehmer. "Wir nehmen nur Patienten, die nicht eine der gängigen Standardtherapien haben möchten, sondern sich für diesen neuen Ansatz interessieren", sagt Prof. Christoph Heesen, stellvertretender Direktor des Instituts für Neuroimmunologie und Klinische Multiple-Sklerose-Forschung. "Außerdem kommen nur Patienten infrage, bei denen sicher ist, dass ihr Immunsystem sich gegen diese Antigene richtet. Das wird vorher durch eine Laboruntersuchung geklärt."

Insgesamt wird es zwei Studien geben. In der Phase-1-Studie wird die Verträglichkeit und mögliche Schädlichkeit der neuen Methode geprüft. Daran können MS-Patienten teilnehmen, die keine Krankheitsaktivität haben: Denn andernfalls kann man nicht entscheiden, ob eventuell neu aufgetretene Entzündungsherde durch den Therapieversuch ausgelöst sind oder durch den natürlichen Verlauf der Erkrankung. Als Studienteilnehmer werden sechs Patienten gesucht, die entweder einen chronisch fortschreitenden oder einen schubförmigen Verlauf der Erkrankung haben und bei denen in der Kernspinaufnahme keine Entzündungsaktivität nachweisbar ist. Während der Studie dürfen die Teilnehmer keine MS-Medikamente nehmen. Bei eventuell auftretenden Schüben wird aber die Standardtherapie durchgeführt. Diese Studie soll etwa ein halbes Jahr dauern.

Auch eine Anwendung der Methode in der Organtransplantation ist denkbar

"Anschließend, wenn das alles positiv verlaufen sollte, was von Experten engmaschig überwacht wird, würden wir hoffentlich grünes Licht bekommen für die Phase-2-Studie", sagt Martin. Dafür werden zwölf Patienten gesucht, bei denen die Diagnose "multiple Sklerose" erst vor wenigen Jahren gestellt wurde und bei denen in der Kernspinaufnahme Entzündungsherde nachweisbar sind. Auch in dieser Studie dürfen die Teilnehmer nicht zusätzlich MS-Medikamente einnehmen. Wenn sie typische MS-Medikamente genommen haben, können sie nach einer Karenzzeit von ein bis drei Monaten an der Studie teilnehmen. Martin rechnet damit, dass diese zweite Studie frühestens Ende dieses Jahres beginnt, wenn alles nach Plan läuft, und ungefähr nach eineinhalb Jahren abgeschlossen ist.

Wenn die Methode funktioniert, wäre es auch vorstellbar, sie in einem ganz anderen Gebiet wie der Organtransplantation einzusetzen, sagt Christoph Heesen und wagt einen Blick in die Zukunft: Denkbar sei, dass man damit auch die Abstoßungsreaktionen gegen ein fremdes Organ gezielt unterdrücken könnte.

Weitere Informationen zur Studie: Tel. 741 05 40 76

Das vollständige Programm des Welt-MS-Aktionstages am 26. Mai in Hamburg zum Herunterladen.