Drei Viertel aller Menschen über 65 Jahre haben mehrere Krankheiten. Für sie wollen Hamburger Mediziner neue Behandlungsgrundsätze entwickeln.

Seine Herzschmerzen waren weg, denn der 78 Jahre alte Patient hatte einen Stent bekommen. "Nun müssen sie jeden Tag mindestens 30 Minuten gehen", ermahnt ihn der Herzspezialist im Abschlussgespräch. Was der Mediziner nicht sieht: Der Patient ist nach einer Oberschenkelfraktur gehbehindert, das sicherlich erforderliche Training kann er auf sich allein gestellt nicht leisten. "Immer häufiger kommt es vor, dass Fachärzte Therapien verschreiben, die sich widersprechen oder die nicht umgesetzt werden können, weil die meisten Menschen, die in die Praxis eines Hausarztes kommen, an drei, vier oder noch mehr chronischen Krankheiten leiden. Doch erforscht wird bislang fast nur die Behandlung einzelner Krankheiten, das muss sich ändern", kommentiert Prof. Hendrik van den Bussche, Direktor des UKE-Instituts für Allgemeinmedizin. Denn zwei Drittel aller Menschen über 65 Jahren hätten mehrere chronische Krankheiten, bei den über 80-Jährigen seien es sogar drei Viertel. "Wenn der Kranke alle Ratschläge befolgt, alle Pillen schluckt, alle Diäten einhält, die die Ärzte verordnen, dann beschäftigt sich der Patient schließlich nur noch mit seinen Krankheiten. Das ist krankmachend."

Prof. van den Bussche will jetzt in einem Forschungsprojekt neue Wege im Umgang mit Multimorbidität, so bezeichnen Fachleute das Bestehen mehrerer Krankheiten, entwickeln. Ziel ist, Handreichungen für Hausärzte zu erstellen, damit sie die Patienten sicher versorgen können. "In der Studie, die vom Bundesforschungsministerium mit 3,2 Millionen Euro gefördert wird, arbeiten wir mit sieben Partnern zusammen. Das sind Bonn, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Jena, Leipzig, Mannheim und München. Seit 2008 bearbeiten die acht Zentren vier Teilprojekte."

Zunächst einmal ginge es darum herauszufinden, welche chronischen Erkrankungen wie oft auftreten und wie diese Krankheiten das Leben der Patienten prägen. Dazu wurden von den acht Studienzentren 3200 Patienten, die älter als 65 Jahre sind, in insgesamt 130 Praxen befragt. "Wir erkundigen uns bei den Patienten alle 15 Monate nach ihren Krankheiten und welche Auswirkungen diese auf ihr Leben haben. Parallel dazu müssen die betreuenden Hausärzte einen umfangreichen Fragebogen ausfüllen", erläutert van den Bussche. Um herauszufinden, wie diese multimorbiden Patienten das Gesundheitssystem in Anspruch nehmen, studieren die Hamburger gemeinsam mit Bremen und Leipzig in einem zweiten Teilprojekt die anonymisierten Daten der Versicherten der Gmündner Ersatzkasse. "Da wir das Verhalten der Versicherten rückwirkend bis 2000 analysieren können, erhalten wir einen Überblick, wie sich die Kosten über zwölf Jahre hinweg verändern."

In zwei weiteren Teilstudien wollen die Mediziner herausfinden, wie sich die Versorgung multimorbider Patienten verbessern lässt. "Oftmals wissen die Hausärzte nicht, woran ihre Patienten leiden und wie sie leben", sagt van den Bussche. Dafür sei zum einen ein Gesundheitssystem verantwortlich, dass dem Arzt-Patienten-Gespräch zu wenig Geld widmet. "Außerdem gehen die Patienten eigentlich nur zum Arzt, wenn sie ein akutes Problem haben. Das schildern sie dem Arzt auch, doch oftmals berichten sie nicht, dass sie beispielsweise auch unter Bluthochdruck, Inkontinenz oder Schlafstörungen leiden. Gerade bei Menschen, die unter mehreren chronischen Krankheiten leiden, erscheint es mir sinnvoll, sie kontinuierlich zu betreuen. Damit können körperliche und seelische Krisen vermieden werden."

Eine Idee ist daher, für multimorbide Patienten feste Sprechstundenzeiten einzurichten, in denen ihre Erkrankungen und ihr Alltag kontinuierlich erörtert werden. "Wir wollen auch testen, ob es für die Patienten ein Vorteil ist, wenn die Hausärzte von Sozialexperten unterstützt werden. Diese könnten dann für die Patienten zu ständigen Ansprechpartnern werden, so dass die Mediziner sich auf die medizinischen Fragen konzentrieren können."

Besonderes Augenmerk gilt Patienten, die einen Schlaganfall erlitten haben. "Zwar sind die Chancen, einen Hirninfarkt zu überleben, gestiegen. Doch wenn die Rehabilitation nach fünf Wochen abgeschlossen ist, dann ist Schluss. Dabei wissen wir, dass viele Patienten auch nach dieser Zeit medizinisch, sozial und psychisch dem Alltag nicht gewachsen sind", sagt van den Bussche. Er möchte daher ein Netz um diese Patienten spinnen, in dem Hausärzte, Physiotherapeuten und soziale Dienste gemeinsam dafür sorgen, dass Schlaganfall-Patienten ständig kompetente Ansprechpartner finden.

Überhaupt sei die Vernetzung von allen, die in der Versorgung von Patienten aktiv sind, entscheidend, damit (multimorbide) Patienten wieder ein selbstbestimmtes Leben führen können. Diese Erkenntnis verbreitet van den Bussche, der zu den weltweit führenden Versorgungsforschern zählt, schon länger. Er hofft, dass irgendwann auch die Gesundheitspolitiker das begreifen - und das System entsprechend ausrichten, damit die eine Hand endlich weiß, was die andere tut. Die Erkenntnisse der Studie, die 2012 beendet werden wird, werden dazu sicherlich zahlreiche Anregungen geben. Schließlich wollen die Forscher konkrete Leitlinien für die Behandlung der wichtigsten Krankheitskombinationen erarbeiten. "Wenn uns das gelingt, haben wir viel geschafft."