Ohne die kirchlichen Praxen für Migranten hätten die Behörden ein riesiges Gesundheitsproblem, sagt Migrations-Experte Dirk Hauer von der Diakonie Hamburg

Dirk Hauer, 55, ist Fachbereichsleiter Migration und Existenzsicherung beim Diakonischen Werk Hamburg. Schwerpunkte seiner Arbeit sind die Situation der Wohnungslosen und die Armut in der Stadt.

Hamburger Abendblatt:

Wie gut ist die medizinische Versorgung für Menschen ohne Papiere in Hamburg?

Dirk Hauer:

Das, was diese Menschen in den Mobilen Diensten der Caritas oder den Praxen der Diakonie bekommen, ist die Versorgung auf der Ebene einer Notmedizin. Ärzte können höchstens akute Schmerzzustände, Infektionen oder Wunden behandeln. Chronische Krankheiten oder Krebs und HIV werden nicht behandelt, und schwere Fälle werden nur in absoluten Notlagen ins Krankenhaus überwiesen. Es ist immer noch ein ungelöstes Problem, wie die Kosten für stationäre Behandlungen erstattet werden sollen.

Was für eine Klientel kommt in die kirchlichen Migranten-Praxen?

Hauer:

Bei AnDOCken zum Beispiel sind die Hälfte der Patienten Migranten ohne Papiere, die andere Hälfte sind Zuwanderer aus Osteuropa, vor allem Bulgaren und Rumänen. Zunehmend kommen Frauen mit nichtbetreuten Schwangerschaften.

Warum ist es sinnvoll, auch mit mobilen Krankenfahrzeugen unterwegs zu sein?

Hauer:

Der große Vorteil ist, dass man so direkt Orte anfahren kann, an denen Obdachlose leben. Diese Menschen haben große Schamgrenzen und Hemmungen, in normale Arztpraxen zu gehen. Und dort sind sie auch nicht wohlgelitten. Sie werden so besser aufgefangen.

Welchen Anspruch auf medizinische Versorgung hat ein Mensch ohne Krankenversicherung (KV)?

Hauer:

Deutsche Obdachlose bekommen ohne Weiteres einen KV-Schutz, ebenso anerkannte Flüchtlinge. Bei den Menschen aus Osteuropa sind wir gemeinsam mit der Sozialbehörde der Auffassung, dass man hier stärker die Krankenkassen in die Pflicht nehmen müsste. Wir gehen davon aus, dass die allermeisten dieser Menschen KV-Schutz haben könnten, erst recht, wenn ausstehende Beiträge nachgezahlt werden. Aber die Krankenkassen wollen diese Klientel nicht haben. Menschen ohne Papiere sind zwar nicht krankenversichert, aber laut Asylbewerberleistungsgesetz haben sie ein Anrecht auf eine Minimalversorgung, also bei akuten Krankheiten und Notfällen. Das Problem ist, dass sie ihren Anspruch schwer durchsetzen können, weil sie illegal hier sind. Wer sich outet, gerät in Gefahr, abgeschoben zu werden. Deswegen plädieren die Kirchen und Wohlfahrtsverbände seit Jahren für einen anonymisierten Krankenschein. Das wäre die einfachste Lösung.

Warum gibt es den anonymisierten Krankenschein noch nicht?

Hauer:

Die Sorge der Politik ist, dass der zu teuer werden könnte. Dass zu viele dann diesen Schein in Anspruch nehmen würden. Diese Befürchtung ist nicht von der Hand zu weisen, aber unsere Studie aus dem Jahr 2009 hat gezeigt, dass in Hamburg schätzungsweise zwischen 6000 und 22.000 Illegale leben – die Zahl der Kranken darunter wäre für die Stadt sicher trag- und finanzierbar.

Warum gibt es keine staatlichen Stellen, die helfen, dürfen die nicht?

Hauer:

Generell ist helfen erlaubt, auch für die allermeisten staatlichen Stellen. In Frankfurt wird eine Praxis direkt vom Gesundheitsamt betrieben. Aber in Hamburg ist es faktisch so, dass die Versorgung von Menschen ohne Papiere von Ärzten weitgehend ehrenamtlich durchgeführt wird. Das ist derzeit auch bei den Flüchtlingsunterkünften häufig so. Die staatliche Gesundheitsversorgung ist da nicht ausreichend. Das Problem in den Flüchtlingsunterkünften ist, dass nicht nur zu viele Menschen dort leben, sondern dass zunehmend Menschen kommen, die schwer krank sind. Die sind traumatisiert oder kommen mit Schussverletzungen oder Querschnittslähmungen. Die Anzahl der Suizidversuche in der Erstaufnahme ist erschreckend. Damit sind die Sozialarbeiter vor Ort hoffnungslos überfordert. Man bräuchte dort mehr bezahlte Ärzte und Trauma-Therapeuten.

Was würden die Hamburger Behörden ohne die kirchliche Hilfen machen?

Hauer:

Die Behörden würden ziemlich auf dem Schlauch stehen. Wir hatten im Februar ein relativ großes Problem in der Flüchtlingserstaufnahme, weil dort die Bewohner lange auf ihre Krankenversicherungskarten warten mussten und so nicht in eine normale Praxis gehen konnten. Diese Menschen waren also nicht versorgt, deswegen sind Ärzte aus Kirchengemeinden eingesprungen und haben den Hamburger Senat und die Innenbehörde damit vor Eilverfahren vor dem Sozialgericht gerettet, die die Stadt garantiert verloren hätte.

Was für Menschen sind diese ehrenamtlich tätigen Ärzte?

Hauer:

Es sind zumeist Ärzte mit einem hohen ethischen und moralischen Engagement. Sie verstehen ihren Beruf nicht nur als Möglichkeit Geld zu verdienen, sondern sehen ihn auch verbunden mit einer sozialen Verantwortung.

Gibt es genügend Fachärzte, die mit den ehrenamtlichen zusammenarbeiten, also zum Beispiel kostenlos weiter behandeln?

Hauer:

Nein, wir haben nicht genügend Fachärzte, die weiter behandeln. Der größte Engpass ist derzeit bei Gynäkologen.

Und darf ein Arzt die Behandlung ablehnen, wenn ein Mensch ohne Papiere in seine Praxis kommt?

Hauer:

Wenn es kein Notfall ist, kann der Arzt rechtlich gesehen ablehnen, das ist dann eine ethisch-moralische Frage. Und manche Einrichtungen müssen das auch machen, weil sie sonst überrannt werden.

Welche Risiken gehen die ehrenamtlich tätigen Ärzte ein, gibt es einen rechtlichen Schutz?

Hauer:

Das einzige Risiko, das Ärzte eingehen ist, dass sie ihre Leistung nicht bezahlt bekommen. Rechtliche Konsequenzen hat ihr Handeln nicht. Und sie sind nicht verpflichtet, irgendwelche Daten an Behörden weiterzuleiten. Also Ärzte machen sich nicht strafbar. Wenn es zu einer Falschbehandlung kommt, greift wie sonst auch die Haftpflichtversicherung.