Es ist das weltweit bekannteste Gebet – das Vaterunser. Aber wer weiß schon, was mit den einzelnen Bitten wirklich gemeint ist? Weil das Hauptgebet des Christentums nur scheinbar eine Selbstverständlichkeit ist, stellen wir es an dieser Stelle vor – in einer Reihe zu seinen sieben Bitten. Pastorin Andrea Busse von der Hauptkirche St. Jacobi erklärt den letzten Satz

Am Anfang war alles gut – so erzählt es die Bibel. Mann und Frau einträchtig im Paradies. Sie wussten nichts vom Bösen, und Gottes Urteil lautet: „Siehe, es war alles sehr gut.“ Aber dann kommt die Schlange und erläutert Eva, dass es im wahrsten Sinne des Wortes göttlich ist, zwischen gut und böse unterscheiden zu können. Und so essen die ersten Menschen vom verbotenen Baum. Die Erkenntnis kommt – und mit ihr Scham und Misstrauen, Trennung und Vertreibung. Vorbei mit dem Paradies, in dem alles gut war. Jetzt gibt es das Böse. Das macht Angst. Man muss sich vor ihm schützen, man macht Gesetze, man lernt, Menschen schuldig zu sprechen und sich selbst.

Zu allen Zeiten sind Menschen der Versuchung erlegen, das Böse an einem Punkt festzumachen – an einer Gestalt, einer Meinung, einer Rasse, Religion, Ideologie. Man will es wie im Märchen jagen, ergreifen und vernichten, damit endlich wieder alles gut ist. Hexen wurden verbrannt, Juden verfolgt, die „Achse des Bösen“ bekämpft, Kritiker mundtot gemacht. Aber das Böse wird dabei nie vernichtet – es sterben immer nur Menschen. Und das Böse feiert seine größten Triumphe, weil „die Guten“, vor lauter Eifer, das Böse vernichten zu wollen, selber Böses tun und das irgendwie unvermeidlich finden.

Es ist fatal, wie viel Bosheit das Böse hervorrufen kann! „Wie kann die Welt zusehen, wie in Syrien die Menschen abgeschlachtet werden!“, so soll ein junger Hamburger gesagt haben – um dann als Kämpfer in den Krieg nach Syrien zu ziehen. Beurteilungen von gut und böse bleiben im Hals stecken, alles scheint falsch, da geht nur noch ein Stoßgebet: „Erlöse uns von dem Bösen!“

Die letzte Bitte des Vaterunsers nimmt das Äußerste auf: das Böse. Oder den Bösen. Immer wieder wurde in der Auslegungsgeschichte darüber gestritten, ob mit „dem“ Bösen etwas Sachliches oder Persönliches gemeint ist, eine höhere Macht oder eine Art Teufel.

Zu Jesu Zeiten stellten sich die Menschen das Böse personifiziert vor. Im Neuen Testament wird von Dämonen und dem Teufel gesprochen. Zu jener Zeit wurden Unglück oder Krankheiten auf böse Geister zurückgeführt, die Menschheit, schien zerstörerischen Mächten ausgeliefert. Unser Weltbild hat sich geändert. Beim Stichwort Teufel haben viele von uns eine Kasperletheater-Figur vor Augen – niedlich und vor allem handhabbar. Dämonen haben nur noch in Filmen ihren Auftritt. Aber gibt es „das Böse“ nicht mehr? Haben wir es so gut im Griff, dass uns keiner mehr erlösen müsste? Wohl kaum.

Wenn die Bibel davon erzählt, dass Jesus in der Kraft des heiligen Geistes böse Geister austreibt, so signalisiert dies, dass mit Jesu Kommen Gott sein Reich in dieser Welt aufrichten will. Und so schließt sich der Kreis zu der Anfangsbitte „Dein Reich komme!“. Ein Reich, in dem das Böse vernichtet und alles wieder gut ist. Trotzdem ist die Erlösungsbitte nicht nur auf ein paradiesisches Jenseits ausgerichtet. Matthäus bettet das Vaterunser nicht umsonst ein in seine ethischen Anweisungen. Also nicht: Hände in den Schoß und auf Gottes Eingreifen warten!

Wenn sich also in Israel und Palästina Eltern, die ihre Kinder im Konflikt verloren haben, nicht gegenseitig Rache schwören, sondern gemeinsam im „Parents Circle – Families Forum“ für Versöhnung und Gewaltlosigkeit einsetzen, dann triumphiert das Böse nicht länger. Und im Kleinen wäre schon viel gewonnen, wenn wir in Konfliktsituationen nicht nur Angst hätten, den Kürzeren zu ziehen, sondern auch die Bedürfnisse des anderen im Blick behielten.

So sind wir aufgerufen, das Böse mit Gutem zu überwinden, aber erlösen kann nur Gott. Das entlastet vor übermäßigen Ansprüchen an uns selbst und setzt die Hoffnung auf das Gute „… denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.“

Vater unser im Himmel

Geheiligt werde dein Name.

Dein Reich komme.

Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.

Unser tägliches Brot gib uns heute.

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.

Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.

Amen.