Wer Konventionen überwindet und den sicheren Boden des Gewohnten verlässt, kann scheitern, aber auch viel gewinnen. Hamburgs Museen zeigen zahlreiche Beispiele.

Die Städte des europäischen Mittelalters waren von Wällen und Mauern umgeben, hinter denen sich die Menschen sicher fühlten, bis heute schützen uns Deiche vor den Gefahren von Sturmfluten und Überschwemmungen. Aber Grenzen können auch einschließen, einengen und unsere Freiheit beschneiden. Sie zu überwinden, ist mitunter lebensgefährlich, wie die Geschichte der Berliner Mauer zeigt, deren Fall die DDR-Bürger mit dem Mut der Verzweiflung vor 25 Jahren erzwungen haben.

Und Mut gehört immer dazu, wenn es darum geht, Grenzen zu überschreiten. Das gilt nicht allein für Demarkationslinien, sondern auch für die Grenzen der Konvention, im Leben wie in der Kunst, in der Forschung wie in der Politik. Wer jene Beschränkungen infrage stellt, die allgemein akzeptiert und für unabänderlich gehalten werden, geht oft ein beträchtliches Risiko ein, denn selbstverständlich kann er scheitern. Aber er kann auch viel gewinnen: neue Erfahrungen, ungeahnte Erkenntnisse, eine andere Weltsicht, einen nie zuvor gekannten künstlerischen Ausdruck.

Und manchmal zählt schon Absicht, beeindruckt das Wagnis und liegt sogar im Scheitern noch Größe, wie zum Beispiel die „Imperial Trans-Antarctic Expedition“ zeigt, zu der der britische Polarforscher Ernest Shackleton vor 100 Jahren aufbrach, um als Erster die Antarktis zu durchqueren. Shackleton erreichte sein Ziel nicht, denn das Expeditionsschiff „Endurance“ war auf dem Weg zur Antarktis von den Eismassen umschlossen und schließlich zerdrückt worden. Nach monatelanger Drift auf dem Packeis entschlossen sich Shackleton und fünf weitere Männer zu einer extrem gefährlichen Fahrt mit dem nur 7,50 Meter langen und zwei Meter breiten Beiboot „James Caird“, um Hilfe zu holen. Im Internationalen Maritimen Museum sind jene Bilder und Filmausschnitte zu sehen, mit der der Kameramann Frank Hurley die Expedition damals dokumentierte. Zu den interessantesten Objekten der Dauerausstellung gehört außerdem der detailgetreue Nachbau der „James Caird“, mit der deutsche Polarforscher Arved Fuchs im Jahr 2000 Shackletons Reise noch einmal wiederholte – ein Hommage an eine mutige Rettungsaktion, mit der der britische Seefahrer vor 100 Jahren mehr als nur eine Grenze überschritten hat.

Ausgerechnet jene Deutschen, die sich 1914 dazu entschlossen hatten, ihre Heimat zu verlassen, stießen völlig unerwartet an enge Grenzen: Mit Beginn des Ersten Weltkriegs machte sich in Großbritannien, aber auch in den USA und in Australien schnell eine deutschfeindliche Stimmung bemerkbar. Das Misstrauen in die „feindlichen Ausländer“ war so groß, dass die männlichen Deutschen und Österreicher, sofern sie nicht eingebürgert waren, ab dem 7. August 1914 interniert wurden. „Deutsche im Ausland während des Ersten Weltkriegs“, heißt die Ausstellung, in der sich das Auswanderermuseum BallinStadt erneut mit den weltpolitischen Erschütterungen auseinandersetzt, die ab 1914 das Leben der Menschen bestimmt haben.

Um weit mehr als nur den zeitweiligen Verlust der persönlichen Freiheit ging es für die Menschen in jenen Ländern, die im Zweiten Weltkrieg von der Deutschen Wehrmacht überfallen wurden. Im Frühjahr 1940 besetzte Hitler-Deutschland die Niederlande, Belgien, Luxemburg und einen Teil Frankreichs. Viele Menschen wurden in den betroffenen Ländern beraubt, zur Zwangsarbeit deportiert oder im Rahmen von „Vergeltungsaktionen“ sogar ermordet. Mit der Ausstellung „Deportiert in das KZ Neuengamme. Strafaktionen von SS und Wehrmacht im besetzten Europa“ erinnert die KZ Gedenkstätte Neuengamme in der Rathausdiele an die Gewaltverbrechen in den von Deutschland besetzten Ländern, nicht nur in Ost-, sondern auch in Westeuropa. Mit bedrückenden Bildern dokumentiert die Schau einen Zivilisationsbruch, bei dem jede Grenze der Humanität bedenkenlos überschritten wurde.

Die Identität der 1,2 Millionen tibetischen Nomaden, die in der Volksrepublik China noch heute ihre Traditionen leben, wird durch die Weite der Landschaft bestimmt, in der ihnen jede Grenzziehung willkürlich erscheinen muss. Jetzt planen die chinesischen Behörden die Zwangsansiedlung der letzten Nomaden in neu errichteten Dörfern, in denen es in der Regel weder eine ausreichende Infrastruktur, noch Arbeitsplätze gibt. „Tibet – Nomaden in Not“, heißt eine Ausstellung, in der das Museum für Völkerkunde über die nicht nur von Menschenrechtsorganisationen, sondern auch von den Vereinten Nationen kritisierte Zerstörung einer jahrtausendealten Lebens- und Wirtschaftsform informiert.

Zerstörungen von Kulturgütern hat China während der Kulturrevolution in den 1960er- und 1970er-Jahren in kaum vorstellbarem Maß erlitten. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass die Kalligrafie bis heute allen ideologischen Herausforderungen und Modernisierungstrends zum Trotz eine enorme Rolle in der Alltagskultur wie in der zeitgenössischen Kunst spielt. „Secret Signs. Zeitgenössische chinesische Kunst im Namen der Schrift“, heißt eine faszinierende Ausstellung, die die Deichtorhallen in Kooperation mit dem Museum M + Hongkong realisieren. Dabei wird deutlich, wie stark die schon im dritten vorchristlichen Jahrhundert eingeführte chinesische Schrift auch die Avantgardekunst beeinflusst und damit alle Grenzen der europäischen Kultur überschreitet. Die Ausstellung, die in der Sammlung Falckenberg in Harburg gezeigt wird, vereint etwa 110 Werke aus der Sammlung Sigg, die aus der Zeit von 1980 bis in die jüngste Vergangenheit stammen und einerseits die Kontinuität der kulturellen Tradition zum Ausdruck bringen, zum anderen aber auch deren bewusste Überwindung.

Die Abwendung von der Figuration hin zur Abstraktion war die wohl wesentlichste künstlerische Grenzüberschreitung jener Zeit, in der Maler wie Wassily Kandinsky oder Franz Marc nach völlig neuen Ausdrucksformen suchten. Zu den Pionieren der Abstraktion gehört auch der heute nur wenig bekannte Wilhelm Morgner, dem das Ernst Barlach Haus eine Werkschau widmet. Morgners künstlerische Entwicklung, die einen weiten Bogen von der Figuration bis zur Abstraktion vollzieht, endete abrupt, als der Künstler während des Ersten Weltkriegs nur 26-jährig in Flandern fiel. Wie folgenreich seine ästhetischen Grenzüberschreitungen waren, zeigte sich noch lange nach seinem Tod, als ihn die Nationalsozialisten als „entartet“ diffamierten und acht seiner Werke 1937 auf ihrer berüchtigten Münchner Propagandaschau präsentierten.

Für den Expressionisten Max Beckmann hatten Grenzen eine existenzielle Bedeutung. Als er Hitlers Rede zur Eröffnung der Ersten Großen Deutschen Kunstausstellung hörte, entschloss er sich, noch am selben Tag Deutschland zu verlassen. In seinem Amsterdamer Exil war sein Lebensraum stark eingeschränkt. Doch obwohl ihm die geliebten Reisen ans Meer nun verwehrt blieben, konnte er zumindest in seiner Kunst alle Grenzen überwinden. In der Stillleben-Ausstellung der Kunsthalle sind gerade aus seiner Amsterdamer Zeit Arbeiten zu finden, die sich als Grenzüberschreitungen erweisen: Faszinierende Stillleben mit Ausblicken in die Weite der Landschaft, vergegenwärtigte Erinnerungen, in denen sich Kunst als Mittel zum Überleben erweist. Joan Miró hingegen betrachtete die Grenzen zwischen seiner Malerei und der Literatur von Autoren wie Ernest Hemingway, Ezra Pound oder Henry Miller als fließend. Wie stark und umfassend sich der bedeutende spanische Maler immer wieder von den Werken vor allem befreundeter Literaten anregen ließ, zeigt das Bucerius Kunst Forum in seiner Frühjahrsausstellung „Miró. Malerei als Poesie“.

Dass eine Grenzüberschreitung sogar zum Massentrend werden kann, führt uns schließlich das Museum für Kunst und Gewerbe im wörtlichen Sinn hautnah vor Augen. In der Ausstellung „Tattoo“ wird die Tätowierkunst nicht nur als angesagtes Modeaccessoire vorgestellt, sondern mit etwa 250 Fotografien, Farbholzschnitten, Gemälden, Skulpturen und Installationen als vielschichtiges künstlerisches Phänomen, das inzwischen alle sozialen Schichten erobert hat – auch wenn der Anblick mancher dieser Körperbilder nach wie vor verstörend wirken mag.

Miró. Malerei als Poesie 31. 1. -25. 5. 2015, Bucerius Kunst Forum, www.buceriuskunstforum.de

Shackletons Fahrt dauerhaft, Maritimes Museum, www.imm-hamburg.de

Max Beckmann. Die Stillleben 18.1.2015, Hamburger Kunsthalle, www.hamburger-kunsthalle.de

Gefangen zwischen Krieg und Frieden, 30.12.2014, Ballinstadt, www.ballinstadt.de

Deportiert in das KZ Neuengamme. 15. 1. - 5. 2. 2015, Rathausdiele, www.kz-gedenkstaetteneuengamme. de

Secret Signs 8. 2. 2014, Deichtorhallen, Sammlung Falckenberg, www.sammlungfalckenberg.de

Tattoo 13. 2. - 6. 9. 2015, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, www.mkg-hamburg.de

Wilhelm Morgner 1. 2. 2015, Ernst Barlach Haus, www.barlach-haus.de