Prof. Wolfram Weiße über die Auswirkungen der Reformation und das Miteinander der Religionen heute

rof. Wolfram Weiße ist Direktor der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg. Der evangelische Theologe ist Luther-Kenner, hat mehrere Bücher über den Reformator rezensiert und ist Experte für den interreligiösen Dialog.

Hamburger Abendblatt:

Was bedeutet Reformation aus Ihrer Sicht?

Wolfram Weiße:

Reformation heißt, mit Mut, Scharfsinn, Klugheit und innovativen Ansätzen Religion von Grund auf neu zu interpretieren.

Was hat die Reformation den Hamburgern gebracht?

Weiße:

Im 16. Jahrhundert gab es viele Missstände: die Ausbildung der Priester war defizitär, die Schulbildung war auf schlechtem Niveau, es gab viel zu viele Vorschriften. Dann kam die Reformation, und bis heute gibt es ganz deutliche Impulse, die von Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ ausgehen. In dem Werk hat er über das Priestertum aller Gläubigen geschrieben und damit eine revolutionäre These aufgestellt, die sich allerdings erst in den nächsten Jahrhunderten durchgesetzt hat. Denn er hat damit eine Selbstständigkeit des Denkens für Menschen propagiert.Die Reformation hat zudem der Musik einen großen Stellenwert eingeräumt und ebenso der Bildung für Mädchen und Jungen, das war zuvor nicht selbstverständlich. Und wichtig ist die Sprache: Luther hat die hebräische Bibel und das griechische Neue Testament ins Deutsche übersetzt und damit eine Grundlage geschaffen, dass Menschen sich selbst ein Bild von ihrer Religion machen konnten und nicht mehr auf die Vermittlung der Kirche angewiesen waren. Das ist bis heute so. Die Bürger Hamburgs haben eine Kritikfähigkeit an religiöser Autorität und auch an politischer Obrigkeit entwickelt.

Nun hat gerade die Senatskanzlei eine eigene Website eingerichtet für das Lutherdekadenjahr: Ist es sinnvoll, das hier groß zu feiern, denn Luther hat in Hamburg nie gewirkt?

Weiße:

Wir Hamburger können doch dankbar sein, dass es diesen Mut von Luther gegeben hat, Grundlegendes für alle Menschen einzufordern. Ich finde es deswegen gut, dass wir hier feiern, weil mit der Reformation eine Zeitenwende stattgefunden hat. Und was als Aufbruchbewegung mit der Reformation begonnen wurde, ist über die Aufklärung bis hin in die jetzige Zeit von erheblicher Relevanz. Von daher wäre ein Fest gut, das alle die Impulse aufnimmt, die bis heute wirken, wie zum Beispiel im Bereich Bildung.

Dennoch, die Ereignisse sind 500 Jahre her, warum sollten sich gerade Jüngere noch dafür interessieren?

Weiße:

Weil Martin Luther eine faszinierende Persönlichkeit war. Man sollte den Jüngeren erklären, dass Luther einer war, der dem Volk aufs Maul geschaut hat. Der seine Theorie nicht am Schreibtisch entwickelt, sondern der auch gesehen hat, wo es den Menschen unter den Nägeln brennt, wie sie sprechen, worauf sie hoffen und was sie wirklich bedrückt.

Und Luther war die Kombination von Gottesliebe und Zuwendung gegenüber anderen wichtig, und das ist sehr modern. Das heißt übersetzt: Die anderen sind für meine eigene Religion, für meine Frömmigkeit wichtig, und das hat bis heute eine ganz große Relevanz. Dahinter steckt die ganz klare Botschaft, dass Luthertum nicht den Ausschluss von anderen bedeuten kann, sondern dass die Nächstenliebe, die Gerechtigkeit für andere, ein springender Punkt dafür ist, wie die eigene Religion gelebt wird.

Die Lutherische Kirche hat allerdings nach der Reformation einen enormen Druck auf Andersgläubige wie Reformierte, Katholiken und Juden ausgeübt. Wie bewerten Sie das Miteinander der Religionen und Konfessionen heute in Hamburg?

Weiße:

In Hamburg hat sich mit der Zeit ein sehr gutes Miteinander von Lutheranern, Katholiken, Reformierten, Juden entwickelt. Aber die Katholiken sind als kleine Kirche in Hamburg auch nie eine Gefährdung für das Luthertum gewesen, die Reformierten sind eine noch kleinere Gemeinde, also auch da gibt es keine Konkurrenz. So hat sich die Lutherische Kirche zu einer souveränen Kirche entwickelt, die sich sehr gegenüber anderen Religionen geöffnet hat. Und es ist auch ganz im Sinne des lutherischen Geistes, dass sie einen interreligiösen Dialog mit den Muslimen begonnen hat. Das fing in den 70er-Jahren an und wurde besonders intensiv in den 90er-Jahren. Das ist also ein relativ junges Phänomen. Bundesweit gesehen ist die evangelisch-lutherische Nordkirche da schon vorbildlich, weil sie zum Beispiel schon vor knapp zehn Jahren eine Synode zu dem Miteinander von Christen und Muslimen abgehalten hat. Da wurden deutliche Worte der Akzeptanz anderer Religionen, zumal des Islam, ausgesprochen.

Wie kann man die anderen Religionen in die Reformationsfeiern mit einbeziehen?

Weiße:

Ich gehe davon aus, dass bei den Festakten die Leitungen der anderen Religionsgemeinschaften mit eingeladen werden, denn das hat in Hamburg Tradition. Man muss nur aufpassen, dass man Luther nicht als den Helden darstellt, gegen den alle wichtigen Figuren der anderen Religionen verblassen.

Was erhoffen Sie sich als Impuls nach den Feierlichkeiten?

Weiße:

Derzeit wird der Protestantismus von Menschen anderen Glaubens zuweilen als farblos empfunden, so als hätten die Protestanten nichts mehr zu sagen. Es könnte sein, dass durch die Wiederaufnahme der Grundgedanken Luthers die Konturen protestantischen Christentums wieder sichtbarer werden. Das Lutherjahr ist nicht nur eine Chance, mit anderen Religionen ins Gespräch zu kommen, es kann auch neue Impulse innerhalb der evangelischen Gemeinden setzen, die eigene Religion wieder neu zu entdecken.

Website der Hamburger Senatskanzlei unter: www.hamburger-reformation.de