Es ist das weltweit bekannteste Gebet – das Vaterunser. Aber wer weiß schon, was mit den einzelnen Bitten wirklich gemeint ist? Weil das Hauptgebet des Christentums nur scheinbar eine Selbstverständlichkeit ist, stellen wir es an dieser Stelle vor – in einer Reihe zu seinen sieben Bitten. Monsignore Peter Mies erklärt den sechsten Satz

Während die Erwähnung der „Versuchung“ früher vor allem Abwehr und Schrecken ausgelöst hätte, erzeugt sie heute wohl eher ein süffisantes Schmunzeln bei den Ermahnten. „Eine Versuchung ist dazu da, dass man ihr nachgibt“, wird Popsängerin Madonna zitiert: Versuchung eher als (gute) Gelegenheit statt als Gefahr. Und auch die Werbung (die normalerweise sehr gut weiß, was mit den Leuten los ist und worauf sie ansprechen) lockt süffisant mit „der zartesten Versuchung, seit es Schokolade gibt“. So wird die Vater-unser-Bitte leicht zum prüden Spielverderber: „Alles, was Spaß macht, ist verboten.“ Wahrscheinlich haben überstrenge kirchliche Gebote und eine enge tugendsame bürgerliche Moral diesen Gesinnungswechsel kräftig befördert. Ich denke dabei etwa an enge Vorschriften im Sexuellen und an strenge Verpflichtungen zu Gebet und Gottesdienst. Bei jahrzehntelangen Übertreibungen muss man sich ja auch über einen korrigierenden Pendelausschlag nicht wundern.

Aber trotzdem bleibt die Erfahrung bestehen, die doch wohl jede und jeder schon gemacht hat. Das nackte, von Verlockungen und Versuchungen befreite Böse ist: einfach nur hässlich, schal, erbärmlich. Das weiß jeder, der zum Beispiel einmal erlebt hat, wie sein Lügengebäude zusammenbrach und er einfach nur blamiert und seiner Glaubwürdigkeit beraubt dastand. Wahrscheinlich kann man sich auch ganz gut in die Situation hineinversetzen, nach einer verlockenden Nacht auswärts dann später beim hellen Sonnenschein der langjährigen treuen Partnerin und Mutter seiner Kinder wieder in die Augen sehen zu müssen. Und jeder kann sich wohl auch vorstellen, wie schal sich erschwindeltes Geld in der Tasche anfühlt und wie wenig Freude man beim Ausgeben hat. Jedenfalls, solange man noch nicht daran gewöhnt ist. „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s gänzlich ungeniert“, reimte schon der zynische Menschenkenner Wilhelm Busch. Gewöhnt haben wir uns meistenteils wohl auch schon an Bilder, die Folgen unseres gemeinsamen Wirtschaftens und unserer demokratisch gewählten Politik zeigen: hässlicher Hunger und schmutzige Armut an etlichen Stellen der Welt. Nein – das Böse ist nicht harmlos.

Also benennen wir die Versuchung ruhig als das, was sie ist: ein Täuschungsmanöver, ein Betrugsversuch, der den Betrogenen nach dem Erwachen eiskalt allein lässt. Da wird einem vorgegaukelt, im Bösen liege doch eigentlich etwas Gutes, ein bisschen Spaß dürfe man sich doch gönnen, man müsse doch nicht immer alles so verbissen sehen – und überhaupt: Das sei doch alles „nicht so schlimm“. Und nach der Überwältigung durch die Versuchung kommt irgendwann der ernüchternde Blick auf die Wirklichkeit.

„Und führe uns nicht in Versuchung“: Sollte es nun tatsächlich Gott selber sein, der die Menschen derart in Versuchung führt? Ja – der Text heißt so. Es gab damals eine Tradition des Glaubens, die sich vorstellte, dass Gott vor allem die ganz Starken, Glaubensvollen in Versuchung führte, also: erprobte, um sie noch stärker zu machen – sozusagen als Privileg. Das müssen wir heute nicht mehr so sehen. Deshalb beten die Jünger Jesu, die sich als nicht so stark ansahen, gerade darum, nicht in Versuchung geführt zu werden.

„Allem kann ich widerstehen, nur der Versuchung nicht“, hatte Oscar Wilde so schön witzig und selbstironisch gesagt. In Wirklichkeit ist das der Anfang eines Weges, der nur noch bergab geht: ins Hässliche, Schale, Abgeschmackte. Statt mit der eigenen Schwäche zu kokettieren, kann man sich auch mit seinen Stärken verbünden und die klare Sicht auf die Dinge gleich an den Anfang stellen. Und dafür wäre es dann genau die richtige Bitte: Und führe uns nicht in Versuchung.

Der Autor ist Dompfarrer am Hamburger Mariendom