Cranachs „Auferweckung des Jünglings von Nain“ zeigt frühe Stadtansichten der Residenz- und der Hansestadt, die beide an der Elbe liegen

Wenn die Menschen im 16. Jahrhundert die Geschichten aus der Bibel hörten, war das für sie kein Geschehen aus einer fernen Zeit, sondern hatte mit ihrem eigenen Leben zu tun. Ein Beispiel dafür zeigt ein Gemälde von Lucas Cranach d. J., das in der Schlosskirche zu Wittenberg hängt. Im Vordergrund ist ein Trauerzug zu sehen, der eine biblische Szene darstellt, wie sie im siebenten Kapitel des Lukasevangeliums geschildert wird. „Als er aber nahe an das Stadttor kam, da trug man einen Toten heraus, der ein einziger Sohn war seiner Mutter; und sie war eine Witwe, und viel Volks aus der Stadt ging mit ihr“, heißt es zu Beginn der Geschichte, in der Jesus den „Jüngling von Nain“ wieder zum Leben erweckt. Der Trauerzug auf dem Bild, das 1565 entstanden ist, stellt aber zugleich einen anderen Trauerzug dar, der die Menschen in Wittenberg erschüttert hat: Am 1. Januar 1565 war der aus Hamburg stammende Student Franciscus Oldenhorst gestorben.

Wie in der biblischen Geschichte war auch er der einzige Sohn seiner Mutter, die zuvor bereits ihren Mann verloren hatte. Oldenhorst war nicht der einzige junge Hamburger, den es nach Wittenberg zog. Da die Hansestadt keine eigene Universität besaß, studierten die jungen Hamburger zunächst oft an der Rostocker Uni, doch nach der Reformation bevorzugten viele die Leucorea, die renommierte Alma Mater von Wittenberg. Dort kam Oldenhorst bei Magister Heinrich Moller unter, der ebenfalls aus Hamburg stammte, in Wittenberg Hebraistik lehrte und außerdem der Bruder des Schwagers des Studenten war. Dieser Schwager hieß Johannes Moller, war Domherr in Hamburg und gab das Epitaph bei Cranach in Auftrag. Epitaphe erinnern an Verstorbene, befinden sich aber nicht zwangsläufig an einem Grabmal, sondern häufig in Kirchenräumen.

Cranach verlegt die Geschichte ins Hier und Heute seiner Zeitgenossen

Der Ort Nain, Schauplatz der biblischen Geschichte, liegt etwa 20 Kilometer südwestlich vom See Genezareth entfernt zu Füßen des Berges Tabor. Doch Cranach malt keine orientalische Landschaft, sondern verlegt die Geschichte in das Hier und Heute seiner Auftraggeber. So ist im Vordergrund das Wittenberger Stadttor zu sehen, dahinter ragen die Doppeltürme der Stadtkirche auf, daneben erkennt man Bürgerhäuser, das Gebäude der alten Universität und schließlich den Turm der Schlosskirche in den Renaissanceformen des 16. Jahrhunderts. Im Leichenzug ist nicht nur die trauernde Mutter zu sehen, hier kann man auch prominente Wittenberger Bürger und deren Ehefrauen, Ratsherren, Professoren und Studenten identifizieren.

Jenseits der Elbe taucht eine große Stadt mit Wällen, Mauern und aufragenden Kirchtürmen auf, bei der es sich eindeutig nicht um einen Nachbarort Wittenbergs handel kann. Es ist eine Darstellung der Hamburger Elbseite, die vom Steintor bis zum Niederhafen reicht. Die Türme des Doms und der Hauptkirchen sind gut zu erkennen,

So vereint dieses Gemälde den Geburts- und den Sterbeort des Hamburger Studenten, an dessen Schicksal das Epitaph erinnern soll. Ursprünglich hing es am vierten Südpfeiler der Stadtkirche, wurde aber während der Napoleonischen Kriege durch französische Soldaten beschädigt. Anfang des 20. Jahrhunderts befand sich das Bild in einem so schlechten Zustand, dass sich die Wittenberger Verwaltung für Kunst- und Kulturangelegenheiten dazu entschloss, es als Leihgabe nach Hamburg zu geben, freilich unter der Maßgabe, dass es dort restauriert würde. Als das Cranach-Bild in den 1920er-Jahren ins Museum für Hamburgische Geschichte kam, wurde es durch den zuständigen Fachmann Hubert Weißen gründlich restauriert. Dabei stellte man auch fest, dass wir es hier mit einer der ältesten Hamburger Stadtansichten zu tun haben.

Während des Zweiten Weltkriegs blieb das Gemälde in Hamburg, erst in den 1980er-Jahren ging das für Wittenberg und Hamburg gleichermaßen bedeutsame Gemälde an seinen Ursprungsort zurück, wo es wieder in der Schlosskirche hängt. Woran Franciscus Oldenhorst am Neujahrstag 1565 gestorben ist, ob es ein Unfall war oder eine schwere Krankheit, verrät das Gemälde nicht, im Mittelpunkt steht vielmehr die Glaubensgewissheit der Auferstehung.