Wie evangelisch ist Hamburg? Ein Abendblatt-Gespräch mit Bischöfin Kirsten Fehrs

Helle Möbel, ein geräumiges, aber nicht riesiges Büro, aus dessen Fenstern der Blick auf die nüchterne Architektur der HafenCity fällt: Prachtentfaltung sieht anders aus. Kirsten Fehrs, seit 2011 Bischöfin der Nordkirche im Sprengel Hamburg und Lübeck, empfängt zum Abendblatt-Gespräch in einem Rahmen, der sich fast wie eine Illustration zum Thema der Unterhaltung verhält.

Hamburger Abendblatt:

Frau Bischöfin, wie evangelisch ist Hamburg?

Kirsten Fehrs:

Von seiner Geschichte her sehr evangelisch. Denken Sie nur an die Silhouette mit den fünf Hauptkirchen! Das Bürgertum nahm die religiösen Angelegenheiten selbst in die Hand. Das macht sich bis heute bemerkbar: Die Pastoren gehörten zum Bürgertum. Erbschaften gingen nicht mehr an den Klerus, sondern flossen in Stiftungen. Klöster wurden zu Schulen. Der Protestantismus führte zu einer Änderung der Wertigkeiten. Statt Pracht und Prunk zählten innere Werte.

Wie stand es denn jenseits der Stiftungen um das bürgerschaftliche Engagement?

Fehrs:

Man machte sich für Bildung stark, und man engagierte sich sozial. Im 19. Jahrhundert entstand die Innere Mission, aus der Zeit stammen das Rauhe Haus mit der Wichern-Schule und die damals sogenannten Alsterdorfer Anstalten. Luther sagte einmal sinngemäß: Wie können wir Geld für den Türkenkrieg ausgeben, wenn es noch Kindern an Bildung fehlt?

Was prägt die evangelische Kirche in Hamburg?

Fehrs:

Sie ist liberal, diakonisch engagiert und pragmatisch. Das entspricht der gesellschaftlichen Orientierung in der Stadt. Diese Tradition wirkt bis heute nach. Man bekommt Hamburger dazu, sich zu beteiligen. Viele engagieren sich über die Gemeinden in ihren Stadtteilen, zum Beispiel in der Hospizbewegung oder für Kinder in Armut. Das begleiten wir, ebenso wie die katholische Kirche.

Wie erklären Sie sich den stereotypen Satz, die Kirchen würden immer leerer?

Fehrs:

Wenn mich jemand darauf anspricht, dann frage ich zurück: Wann waren Sie denn das letzte Mal in der Kirche? Und das ist oft lange her. Wir haben heute nicht weniger Gottesdienstbesucher als vor 20 Jahren. Ich erlebe überall, längst nicht nur in den Hauptkirchen, ein differenziertes Angebot: Familiengottesdienste und besondere Liturgien, in manchen Gemeinden gibt es Kindermusicals und Tauffeste. Man geht neue Wege. Und die Menschen gehen mit.

Wie religiös ist Hamburg?

Fehrs:

Es ist ja so: Wir sind zweifellos in den vergangenen Jahrzehnten weniger Protestanten in Hamburg geworden. Man muss aber auf die Gründe sehen. Der Rückgang liegt zum einen an der demografischen Entwicklung. Zum anderen hat inzwischen ein Drittel der Bevölkerung einen Migrationshintergrund.

Aber unter den Einwanderern sind ja sicherlich auch Protestanten.

Fehrs:

In den Ländern, in denen zurzeit Christen verfolgt werden, gibt es kleine evangelische Kirchen, in Syrien und Palästina etwa. Protestanten in Afrika oder Asien gehören in der Regel zu Freikirchen. Allein die Gesamtheit aller evangelischen Gläubigen umfasst etwa 150 Konfessionen und Kirchen. Aber unabhängig davon müssen wir nicht nur unter uns Christen, sondern interreligiös in Hamburg für eine Dialogfähigkeit sorgen. Und wenn es eine Kirche gibt, die dialogisch konstruiert ist, dann die protestantische.

Im Unterschied zur katholischen.

Fehrs:

Vielleicht ein wenig ausgeprägter. Wir suchen die Wahrheit des Glaubens im Dialog.

Woraus leiten Sie das her?

Fehrs:

Luther hat gesagt: Jeder Mensch muss mündig sein, seinen Glauben zu formulieren, deshalb hat er ja die Bibel übersetzt! Der Mensch muss frei sein, seinen eigenen Glauben zu formulieren, und zugleich Diener an der Gemeinschaft sein. Das Dienen ist das notwendige Gegenstück zur Freiheit. Das ist aber keine Selbstverständlichkeit, das muss man miteinander aushandeln. Es ist ja nicht von vornherein klar, wo die Freiheit des einen endet und die des anderen beginnt.

Der Primat des Aushandelns scheint sich vom genuin Theologischen ins Praktische ausgedehnt zu haben. Manchmal ist es befremdlich, dass sich in der kirchlichen Administration keiner traut, mal eine klare Weisung zu erteilen.

Fehrs:

Diese Scheu kommt in kirchlichen Kreisen schon vor, eine Debatte mal abzukürzen und zu sagen: Ich entscheide jetzt, das machen wir so. Aber eigentlich sind flache Hierarchien etwas Wunderbares! Aus dieser Haltung der Gleichberechtigung heraus haben wir ein Priestertum aller Getauften, die sich verantwortlich fühlen – ob sie nun Theologie studiert haben oder nicht. Und deshalb gibt es Synoden. Nicht die Bischöfin sagt, was die Einzelnen zu glauben haben. Wenn wir in der Synode beraten, wie wir uns zum Beispiel in der Flüchtlingsfrage verhalten, kann die Meinung der anderen ein Korrektiv sein.

Wie verhält sich die Nordkirche zu anderen Religionen und Konfessionen?

Fehrs:

Sie pflegt eine Kultur der Gesprächsfähigkeit. Das gemeinsame Friedensgebet von Christen, Juden und Muslimen in der Blauen Moschee vor einigen Wochen war etwas Besonderes. Und wir fördern ein neues Modell des Religionsunterrichts: den eigenen Glauben kennenlernen und mit anderen darüber ins Gespräch kommen. Das ist bundesweit einmalig.