Luther-Botschafterin Margot Käßmann über Luthers Schattenseiten

Die promovierte Theologin Margot Käßmann ist seit dem 27. April 2012 offizielle Reformations-Botschafterin des EKD-Rates. Ein Gespräch über Luthers Schattenseiten.

Hamburger Abendblatt:

Wie sind Ihre Erfahrungen als Lutherbotschafterin?

Margot Käßmann:

Das Interesse der Menschen ist groß. Ich nehme Einladungen in Deutschland und Europa wahr, nicht nur aus dem kirchlichen Bereich, sondern auch mit Blick auf die Bildungslandschaft Deutschlands oder die Demokratiebewegung.

Welches persönliche Verhältnis haben Sie zur Figur Martin Luther?

Käßmann:

Als Lutheranerin ist er natürlich in meiner Kindheit schon vorgekommen. Ich habe mich neben seiner theologischen Kompetenz immer wieder begeistert für seine eindrückliche Sprachbegabung. Diese Fähigkeit dem Volk aufs Maul zu schauen und so zu reden, dass die Menschen einen verstehen.

Welche Bedeutung hat Luther heute, wo eher soziale Netzwerken dominieren?

Käßmann:

Luthers Sinnfrage, wie finde ich einen gnädigen Gott, würden viele heute so nicht stellen. Aber gerade in unserer Erfolgsgesellschaft ist die Botschaft: Nichts, was du tust oder leistest, gibt deinem Leben Sinn, sondern das ist dir schon zugesagt, tröstlich. Das ist für viele Menschen, die heute finanziell nicht mithalten können, nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen und dem Leistungsdruck nicht standhalten, eine befreiende Botschaft.

Martin Luther hatte ja auch bekannte Schattenseiten. Wie stehen Sie zu seinem Antisemitismus?

Käßmann:

Es gibt einen Streit darüber, ob sein Antijudaismus wirklich die Vorbereitung für den Antisemitismus der Nazis war, aber sie haben seine Schrift von 1543 tatsächlich benutzt. Das ist das erste Jubiläum nach dem Holocaust. Wir müssen diese Schattenseiten benennen! Es gibt aber eine Lerngeschichte der Reformation und einen jüdisch-christlichen Dialog. Schon der Apostel Paulus hat gesagt, das Judentum ist auch die Wurzel des Christentums.

Luther soll auch Hexenwahn und Teufelsangst geschürt haben.

Käßmann:

Tatsächlich hat er die Todesstrafe für Hexen gefordert. Das ist sein mittelalterlicher Anteil, der für uns heute nicht nachvollziehbar ist. Auf der anderen Seite hat er Frauen aufgewertet und gesagt, jeder der getauft ist, ist auch Priester, Bischof, Papst. Damit hat er theologisch langfristig den Weg zur Frauenordination eröffnet. Wir müssen sehen, dass Luther mit einem Bein im Mittelalter stand, aber das andere Bein weit vorgestreckt hat in die Neuzeit.

Es wurde ihm vorgeworfen, eine zu große Nähe zu den Fürstenhäusern zu haben und die kleinen Leute zu vernachlässigen.

Käßmann:

Im Bauernkrieg 1525 hat er mit seiner Distanzierung aus Angst vor dem Chaos, das entstehen könnte, eine große Enttäuschung bei vielen ausgelöst. Er hatte den Eindruck, dass, wenn er seine Kirche den Fürsten anvertraut, diese reformatorische Kirche geschützt würde. Nach dem Abtritt des Kaisers 1918 hat der Protestantismus in der Folge nicht sofort eine positive Haltung zur Demokratie gefunden. Auch bin ich dankbar, dass es eine Lerngeschichte gibt. Heute ist jedem klar, dass die evangelische Kirche in Deutschland die demokratische Ordnung und die Trennung von Kirche und Staat mit Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit und Redefreiheit bejaht.

Das Thema des Jubiläums lautet 2015 „Bild und Bibel“. Was planen Sie?

Käßmann:

Wir eröffnen das Jubiläumsjahr in Hamburg am 31. Oktober und werden deutlich machen, wie Bilder uns beeinflussen. Die Reformation wollte ja, dass wir Bilder kritisch sehen, ich denke, dass Hamburg als Medienstadt ein guter Ort dafür ist.