Kein anderer Tag in der Woche ist so von neuen und alten Ritualen geprägt wie der Sonntag. Eine Übersicht

„Immer wieder sonntags“ – auch wenn man den Musikgeschmack dieser Unterhaltungsshow nicht unbedingt teilt, enthält der ARD-Klassiker doch eine wichtige Wahrheit: Wie kein anderer Tag der Woche ist der Sonntag durch besondere Verhaltensmuster und regelmäßig wiederkehrende Gewohnheiten geprägt. Früher war der Kanon dieser Rituale umfangreich und meist genau festgelegt: Wer erinnert sich nicht an festgelegte Kleiderordnungen für diesen Tag, etwa das Sonntagskleid mit weißen Kniestümpfen für Mädchen und blitzsaubere, mit Wasser fixierte Scheitel für Knaben? War dieser Dresscode für die einen beklemmend, soll es auch andere gegeben haben, die sich jedes Mal auf das Ausführen ihres Sonntagsstaates gefreut haben. Auch der gemeinsame Gottesdienstbesuch gehörte in vielen Gegenden noch zum unhinterfragten Brauchtum:

„Da treten sie zum Kirchgang an, Familienleittiere voran –

Hütchen, Schühchen, Täschchen passend, ihre Männer unterfassend,

die sie heimlich vorwärts schieben, weil die gern zu Hause blieben.“

So hat Franz Josef Degenhardt vor 50 Jahren mit scharfer Zunge und spitzer Feder den „Deutschen Sonntag“ beschrieben und damit die Sonntagsrituale der Nachkriegszeit auf den kritischen Begriff gebracht. Für unzählige Familien gehörte der Sonntagsbraten genauso dazu wie der nachmittägliche Spaziergang, und wie viele Kinder warteten sehnsüchtig auf das Hörspiel im Kinderfunk? In früheren Zeiten war der Sonntag voller Rituale.

Und heute? Wie Umfragen oder Beobachtungen im Freundeskreis zeigen, gibt es sie noch, die Sonntagsrituale, aber sie haben sich – typisch für unser Zeitalter – verändert und vervielfältigt. Zu den neuen Ritualen gehört etwa ein ausführliches gemeinsames Frühstück, gerne mit gekochtem Hühnerei – wenn es später stattfindet, nennt man es „Brunch“. Auch der Sonntagsstaat hat sich erhalten, aber gewandelt: Er besteht jetzt vielfach im sogenannten „Homedress“, also Schlabber-T-Shirt und Jogginghose, weil sowieso keine sozialen Kontakte anstehen. Glaubt man einschlägigen Umfragen oder Postings im Internet, dann besteht für die allermeisten das typische Sonntagsverhalten im Nichtstun: „Chillen“ ist angesagt, oder es wird das praktiziert, was ein Blogger – selbstkritisch? – als „sinnlose Zeitvernichtung im Netz“ beschreibt. Dass der Sonntag keine dem Alltag vergleichbaren festen Zeitstrukturen hat, kann auch eine Überforderung darstellen. Denn es gibt auch die hässliche Seite der geprägten Verhaltensmuster, zumal für diejenigen, die sich zu den Verlierern der Gesellschaft zählen und die keinen Halt finden, wenn die Läden zu sind: Ausgerechnet am Tag des Herrn weist die Polizeistatistik die meisten Gruppen- und Gewaltdelikte aus. Doch auch die erfreulichen Sonntagsrituale haben sich erhalten; zu ihnen zählt ganz bestimmt auch die älteste und beliebteste Krimireihe im deutschen Sprachraum, zu der man sich inzwischen auch in etlichen Gaststätten zum „gemeinsamen „Tatort“-Gucken“ verabreden kann.

Immer wieder, aber nicht nur sonntags: Rituale sind willkommene, weil entlastende Verhaltensmuster, die uns davon befreien, immer alles selbst und neu erfinden zu müssen. Rituale bringen unser Leben in Form und lassen Lebens-Sinn sichtbar werden. Mit seinen Ritualen nimmt der Sonntag also seine ureigene Aufgabe wahr: Er dient der „seelischen Erhebung“ (Grundgesetz Art. 140).

Der Autor ist Pastor und Theologischer Referent beim Ev.-Luth. Kirchenkreis Hamburg-Ost