Es ist das weltweit bekannteste Gebet – das Vaterunser. Aber wer weiß schon, was mit den einzelnen Bitten wirklich gemeint ist? Weil das Hauptgebet des Christentums nur scheinbar eine Selbstverständlichkeit ist, stellen wir es an dieser Stelle vor – in einer Reihe zu seinen sieben Bitten. Edgar S. Hasse erklärt den fünften Satz.

Vergeben? Niemals! Den Nachbarn nicht. Denn die suchen immer neuen Streit. Den beiden älteren Brüdern auch nicht. Denn sie haben sich das ganze Erbe der Eltern erschlichen. Und der Tochter, die ihren Unterhalt vor Gericht eingeklagt hat? Nein, das kann man ihr nicht verzeihen – und vergessen schon gar nicht. Erst recht dem Partner nicht, weil der fremdgegangen ist.

Wer so denkt, lebt in permanenter Kränkungserinnerung. Schuld und Versagen der anderen sind gespeichert wie auf einer Festplatte. Wut, Ärger, Aggression und Rachegefühle prägen Gefühle, Denken und Handeln, auch wenn die Verfehlungen schon lange vergangen sind. Es scheint nahezu unmöglich, diese Festplatte zu löschen und Frieden vor allem mit sich selbst zu finden.

„Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern.“. Die fünfte Bitte des Vaterunsers ist für solche Fälle eine höchst moderne Anleitung zur Selbstheilung. Während die Psychologie erst langsam die Bedeutung der Vergebungsforschung erkennt, stellte Jesus bereits vor fast 2000 Jahren das Verzeihen auf einzigartige Weise in den Mittelpunkt. Richtet sich die Hoffnung in den ersten Bitten (Reich Gottes, tägliches Brot) ganz auf Gott, so kommt in der fünften Bitte der Mitmensch als Handelnder ins Spiel.

Wie wichtig die zwischenmenschliche Dimension ist, bringt die altgriechische Übersetzung des aramäischen Jesuswortes zum Ausdruck: Wörtlich heißt der zweite Halbsatz: „Wie wir vergeben haben unseren Schuldigern.“ Das bedeutet: Erst sollen die Menschen reinen Tisch untereinander machen, bevor Gott unsere Verfehlungen vergibt.

Wer wie Jesus im Vaterunser die Vergebungsbereitschaft so hoch ansiedelt, weiß um das Gift von Kränkungen, Feindschaft und Rache. Die Aggressions- und Gewaltspirale kann nicht nur soziale Alltagsbeziehungen zerstören. Sie kann mit Kriegen und Terror Tod und Verwüstung bringen. Die fünfte Bitte ist dagegen ein religiöses Hoffnungswort – der große Wunsch an Gott, dass er uns hilft, kaputte Beziehungen zu heilen. Dass er hilft, dass wir einander vergeben können.

Was Vergebung heißt, hat Papst Benedikt XVI. so beschrieben: „Vergebung ist keine Verleugnung der Vergehen, sondern eine Teilhabe an der heilenden und verwandelnden Liebe Gottes, die versöhnt und wiederherstellt.“ Und der 2013 verstorbene Hamburger Psychologie-Professor Reinhard Tausch bezeichnete Vergebung als einen Prozess des „Ent-Schuldigens“ und „Befreiung eines anderen von seiner Schuld“. Die erlittene Verletzung werde dem anderen nicht mehr angerechnet. Welche heilsamen Effekte das Verzeihen mit sich bringt, hat der Psychologe Robert Enright von der Universität Wisconsin-Madison erforscht. Verzeihen tue körperlich und seelisch gut, sagt der Wissenschaftler.

Wer verzeihen kann, löst die negativen Gedanken und Gefühle auf und trägt dazu bei, auch psychosomatische Beschwerden wie hohen Blutdruck, Schlaflosigkeit und Rückenschmerzen zu minimieren. Selbst in der Arbeitswelt gewinnt die Kunst der Vergebung einen besonderen Platz: Wer seinen Arbeitskollegen die Verfehlungen verzeihen kann, erhöht die Arbeitszufriedenheit und verbessert die Qualität der Kommunikation im Team.

Jesus erklärt uns zwar nicht die einzelnen Schritte zur heilsamen Vergebung. Aber er fordert die Betenden des Vaterunsers auf, den Mitmenschen mit den Augen der Liebe Gottes in den Blick zu nehmen.

Es geht also um einen Perspektivwechsel im Denken. Der soll uns helfen, zunächst die eigenen Verletzungen, die Kränkungen, Wut und Scham anzuschauen. Damit stellt sich jeder, der vergeben will, tatsächlich einem schmerzlichen Prozess. Danach kommt im inneren Zwiegespräch der andere ins Spiel – mit dem Ziel, sein Fehlverhalten im Idealfall zu verstehen. Und ihm mit einer klaren Entscheidung zu verzeihen. Am Ende steht der Schlussstrich.

Das Vaterunser macht den Menschen Mut zur immerwährenden Vergebung. Denn jeder wird schuldig, und keiner ist besser als der andere. Was Martin Luther in seiner Auslegung der fünften Bitte einst so formulierte: „Nun sieh, du Kläffer, richte dich selbst, rede von dir, sieh an, wer du bist, greife in deinen eigenen Busen; dann wirst du das Übel deines Nächsten wohl vergessen; denn du hast von deinem eignen beide Hände voll, ja über und über voll.“

Vater unser im Himmel

Geheiligt werde dein Name.

Dein Reich komme.

Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.

Unser tägliches Brot gib uns heute.

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.

Denn dein ist das Reich und die Kraft

und die Herrlichkeit in Ewigkeit.

Amen.