In der Bibel und per Gesetz ist der siebte Tag der Woche ein Pausentag. Warum der Sonntag für Geist und Körper so wichtig ist, beschreibt Frank Hofmann

Die Zehn Gebote sind eine seltsame Mischung. Die meisten leuchten so unmittelbar ein, dass wir sie in allen religiösen und nicht religiösen Moralvorstellungen wiederfinden. „Du sollst nicht töten!“ etwa, oder: „Du sollst kein falsch Zeugnis reden!“ Zumindest eine Vorschrift aber sträubt sich gegen den schnellen ethischen Konsens: „Du sollst den Feiertag heiligen!“, wie Martin Luther das nach seiner Zählung dritte Gebot übersetzte. Wörtlich steht dort: „Gedenke des Ruhetags, um ihn zu heiligen!“

Welche Vorstellung führte zu dieser jüdisch-christlichen Besonderheit? Zunächst einmal fällt auf, dass das Feiertagsgebot für die Autoren der alttestamentlichen Schriften von allerhöchster Bedeutung war. In der Szene, in der dem Propheten Mose die Gesetzestafeln übergeben werden, droht Gott den Ruhestörern sogar mit dem Ausschluss aus seinem erwählten Volk und dem Tod. Der Feiertag ist hier nämlich das Zeichen des Bundes zwischen Gott und Mensch. Mit dem Einhalten des Ruhetags gibt der Mensch zu erkennen, dass er zu Gott gehört – und zu niemand anderem. Zu einem Gott, der den Menschen befreien will aus fremdbestimmter Arbeit, Mühsal, Qual, Schinderei, Unterdrückung und, wie im Fall des biblischen Israel, aus Sklaverei.

Der emanzipatorische Aspekt des Feiertagsgebots zeigt sich bis in die Grammatik des hebräischen Urtextes. Während die anderen Gebote streng genommen nur für die israelitischen Männer gelten, sind bei der Ruhetagsvorschrift alle eingeschlossen: Erwähnt werden Mann und Frau, Fremdling und Flüchtling, auch der nicht rechtsfähige Sklave, sogar die Sklavin, die Kinder und das Vieh – also fast die gesamte belebte Schöpfung. Diese Vorstellung war vor 2600 Jahren, als die Erzählung vermutlich ihre Form gewann, revolutionär und einzigartig in der antiken Welt. Es sollte 900 Jahre dauern, bis sie im Kulturkreis des römischen Reichs wiederentdeckt wurde. Weil Kaiser Konstantin der Große es sich weder mit dem christlichen Gott noch mit dem römischen Sonnengott Sol verscherzen wollte, legte er aber den Ruhetag vom Sabbat auf den Sonntag, vom letzten auf den ersten Tag der Woche. Doch dank der DIN-Norm 1355-1, die 1975 den Montag in Deutschland zum Wochenbeginn erklärte, ist die biblische Ordnung wiederhergestellt: Der siebte Tag der Woche ist der Ruhetag.

Gesetzlich arbeitsfrei ist der Sonntag – mit genau festgelegten Ausnahmen – in Deutschland erst seit 1919. Seitdem fehlt es nicht an Versuchen, die Regelung aufzuweichen. Der arbeitsfreie Tag in der Woche stemmt sich nämlich gegen die komplette Funktionalisierung des Menschen. Er ist eine Insel im Meer des Mehrwertschaffens und ständig von Überflutung bedroht. Er lässt sich nicht in der Logik des Marktes begründen und gilt deshalb schnell als irrational oder überholt.

Dabei steckt doch hinter dem Feiertagsgebot eine kluge, immer noch moderne Einsicht. Der Mensch lässt sich leicht durch sein Tagwerk gefangen nehmen. So leicht, dass er über seine Geschäftigkeit alles andere vergisst und seine Arbeit zum Kult, zur Religion macht. Ein gesondertes, dem Feiertag gleichrangiges Arbeitsgebot war deshalb in den biblischen Schriften gar nicht nötig – wohl aber die Mahnung, regelmäßig eine Pause einzulegen. Gott selbst macht es uns vor. Nach sechs Tagen Schöpfungswerk gönnt sich Gott einen Urlaubstag. „Er ruhte und erquickte sich“, heißt es in einer für die Bibel und erst recht für Gottes Tun ungewöhnlichen Wortwahl (Exodus 31,17).

Den Anspruch auf einen Ruhetag müssen wir uns aber aus biblischer Sicht keineswegs verdienen. Der Mensch wurde am sechsten Tag erschaffen – und schon gleich sein erster voller Tag auf der Erde war ein Ruhetag. In diesem Bild lag für den evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer eine tiefe Erkenntnis über unsere Rechtfertigung vor Gott: „Die Feiertagsruhe ist das sichtbare Zeichen dafür, dass der Mensch aus der Gnade Gottes und nicht aus seinen Werken lebt.“ Schon bevor wir unser Tagwerk aufnehmen, haben wir Anteil an Gottes Heiligkeit. Uns wird Sinn geschenkt, bevor wir unser Leben selbst in die Hand nehmen.

Das regelmäßige Pausieren von unserer Arbeit an Sonn- und Feiertagen hilft uns zum einen, körperlich und geistig zu regenerieren. Zum anderen gibt es uns Raum, mit Abstand über unser Leben nachzudenken und es immer wieder neu aus höherer Perspektive zu bewerten. Gott betrachtet nach der getanen Arbeit sein Werk und sagt „sehr gut“. Auch wir sollten uns genügend Zeit zum Freuen, zum Danken und zum Loben nehmen. Klagen kann man auch noch in der Hektik des Arbeitsstresses.

Der Sonntag unterbricht unseren Alltag. Unterbrechung ist die kürzeste Definition von Religion, hat der katholische Theologe Johann Baptist Metz einmal gesagt. Jedes Unterbrechen kann auch ein Aufbrechen sein. Plötzlich stellen sich existenzielle Fragen, die in der Mühle des Alltags kein Gehör finden. Die Zeit steht dadurch nicht still. Aber wir gewinnen für einen Moment Abstand davon und können uns darauf konzentrieren, was unser Leben wirklich erfüllt.

Der Autor ist Chefredakteur beim Hamburger Verein „Andere Zeiten“