John Neumeier zeigt seine entstaubte Version von „Giselle“, dem Romantikballett

„Giselle“ gilt als der Inbegriff des romantischen Balletts. 1841 uraufgeführt, in Vergessenheit geraten und von Sergej Diaghilews Ballets Russes 1910 wiederentdeckt, zählt es fest zum Kanon aller bedeutenden Ballettkompanien. Bis heute verzaubert es mit sinnlich schönen Tanzeinlagen und fantastischen Begebenheiten. Alle großen menschlichen Gefühle sind darin verarbeitet: Verrat, Eifersucht, Leidenschaft, Verzweiflung und Vergebung. In seiner langen Aufführungsgeschichte hat es vielerlei Bearbeitungen und Fassungen erfahren. Und meist setzen Choreografen auf Nostalgie und blumige Bühnenromantik.

Im Jahr 2000 hat John Neumeier „Giselle“ in eigener Regie herausgebracht. Zur Seite stand ihm mit Natalia Makarova die brillanteste „Giselle“-Interpretin des vergangenen Jahrhunderts. Yannis Kokkos schuf ein sehr reduziertes helles, modernes Bühnenbild aus Holz und ein paar Kreidestrichen, in dem sich die Tänzer und Tänzerinnen in wadenlangen Röcken bewegen.

Neumeier stellt seiner Choreografie einen Prolog vorweg. Gleich zu Beginn liegt Giselle, getanzt von Alina Cojocaru, tot am Boden. Gefallen durch einen Liebesverrat, den ihr Verlobter Loys, in Wirklichkeit Herzog Albert, an ihr verübte. Ihre Mutter Berthe, der eifersüchtige Verehrer Hilarion und Albert stehen fassungslos vor ihrem entseelten Körper. Nun geht Giselle ein in den Reigen der sogenannten Willis, junger Frauen, die vor ihrer Hochzeit gestorben sind, jedoch so von Tanzlust besessen sind, dass ihre Geister sich des Nachts aus den Gräbern erheben, um an Weggabelungen zu tanzen. Wenn sie dabei auf einen Lebenden treffen, ziehen sie ihn so lange in ihre Tänze mit hinein, bis auch er tot umfällt.

Der von Schuld gequälte Albert folgt einer Vision von Giselles Geist in den Wald. Doch kann er den Willis durch die Liebe und Vergebung Giselles lebend entkommen, während Hilarion, von der Anführerin der Willis getrieben, bis zur tödlichen Erschöpfung mit ihnen tanzen wird. Das Weiche der Ballettromantik konterkariert Neumeier mit seiner persönlichen, eher kantigen Bewegungssprache und gewinnt daraus eine neue, zeitgemäße, dramatische Dimension.

Die Willis, jene entmaterialisierten Wesen, werden bei Neumeier zu selbstbestimmten, eigenwilligen Mädchen, was ihrer dominanten Königin Myrtha überhaupt nicht passt. Es spielen die Philharmoniker Hamburg, die musikalische Leitung hat Peter Ernst Lassen.

Neumeier bewegt sich mit seiner „Giselle“ in einer Tradition, die über Lawrowsky (1944) und Petipa (1884) in St. Petersburg bis zur Pariser Erstaufführung (1841) zu Perrot und Coralli reicht. Deren Werk ist wiederum auf Heinrich Heine zurückzuführen, der in seiner „Geschichte der schönen Literatur in Deutschland“ (1833) den ursprünglich slawischen Mythos der Willis erwähnte.

Jenen sagenhaften, von Leidenschaften getriebenen Tänzerinnen verfiel seinerzeit der Franzose Théophile Gautier. Fasziniert von den „schauerlich heiteren“ und „frevelhaft liebenswürdigen“ Wesen tat er sich mit dem Librettisten Vernon de Saint-Georges zusammen, kreierte die Figur der Giselle und hauchte ihr mit den Kompositionen von Adolphe Adam Leben ein. Vor allem der zweite Akt auf einer Lichtung verlangt von den Tänzerinnen und Tänzern ein Höchstmaß an Darstellungskunst.

Bei Neumeier spielt wie stets die Auseinandersetzung des russischen Ballettgeistes mit der Moderne hinein. Einmal mehr hat er einen Monolithen der Ballettgeschichte von seinem Traditionsballast befreit, ohne dabei die Choreografie zu zerstören oder das Fantastische aufzugeben.

„Giselle“ 21.9., 18.00, 26./27.9., jeweils 19.30, Staatsoper. Karten zu 4,- bis 97,- unter T. 35 68 68