Es ist das weltweit bekannteste Gebet – das Vaterunser. Aber wer weiß schon, was mit den einzelnen Bitten wirklich gemeint ist? Weil das Hauptgebet des Christentums nur scheinbar eine Selbstverständlichkeit ist, stellen wir es an dieser Stelle vor – in einer Reihe zu seinen sieben Bitten. Pater Martin Löwenstein SJ erklärt den vierten Satz

Hör endlich auf bei Gott um Brot zu betteln, du Opfer! Ich habe den Satz so noch nicht gehört. Aber er würde das Vaterunser-Gebet radikal infrage stellen. Warum sollte jemand Gott um das tägliche Brot bitten? Die einen würden sagen: Wenn du Brot brauchst, nimm es dir! Zumeist aber heißt es: Wer etwas haben will, soll gefälligst dafür arbeiten! Kein vernünftiger Mensch aber, so scheint es, würde behaupten, dass Gott dafür zuständig ist, dass das Brot auf den Tisch kommt. Und doch beten Millionen Christen unablässig: „unser täglich Brot gib uns heute“. Ich kann leider nur sagen, der Einwand hat einiges für sich. Durch Beten füllt sich der Brotkorb nur in dem sehr seltenen Ausnahmefall eines Wunders. Über Wunder darf man sich freuen, wenn sie geschehen; man sollte sie aber nicht als Ersatz für den Broteinkauf einberechnen.

Dennoch sollte man die einzig handfeste Bitte des Urgebets der Christen nicht streichen. Sie steht in der Mitte des Vaterunsers und ist auch inhaltlich die Mitte dieses Gebetes, das auf Jesus zurückgeht, der meinte, wir sollten beim Beten nicht so viele Worte machen. Im Matthäusevangelium in der Bibel ist dieses knappe Gebet überliefert, und seit 2000 Jahren beten es Christen, oft sogar mehrfach am Tage, und ringen mit Gott in diesen Worten, die von Gott selbst stammen. Dazu gehört die Bitte um das tägliche Brot, obwohl wir das Brot letztlich selbst einkaufen oder backen müssen. So scheinbar unsinnig diese Brotbitte da zu stehen scheint, sie erdet alles andere, worum wir im Vaterunser beten: von der Heiligung des Namens Gottes bis zur Vergebung der Schuld. Wenn diese anderen Bitten keinen Bezug zum „täglichen Brot“ haben, sind sie schnell nur pseudofromm und dünnsinnig.

Gottes Name wird dort geheiligt, wo das tägliche Brot nicht herabgewürdigt wird zu etwas, das jeder nur für sich hat, verdient oder nimmt. Zwar sollten alle, denen die Möglichkeiten gegeben sind, sich darum sorgen, dass sie das täglich Notwendige haben – für heute und für sich und im Blick auf Morgen. Aber wer einen einigermaßen realistischen Blick auf sich selbst hat, der weiß, dass sein eigener Beitrag bestenfalls aus der Mischung von eigenen Fähigkeiten und glücklichen Umständen besteht, für die Gott täglich zu danken mir gut anstehen würde. Plane und leiste so gut du kannst, aber meine nicht, der Mensch, der am andren Ende der Welt um einen Teller Reis bangen muss, würde weniger leisten, weil er weniger hat. Dafür steht das Gebet um das tägliche Brot.

Ähnlich ist es mit der Vergebung, um die wir bitten und die zu gewähren wir versprechen. Sünde ist all das, was Gemeinschaft mit anderen (und zugleich die Beziehung zu Gott und mir selbst) kaputt macht. Also bedeutet Vergebung, Gemeinschaft neu aufzubauen. Erlebt werden kann Gemeinschaft vor allem dort, wo Menschen miteinander, wie man sagt, das Brot teilen. Für die Bibel ist das gemeinsame Essen der beste Ort, um Vergebung und Gemeinschaft zu erfahren. Es heißt ja nicht, mein tägliches Brot gib mir – im Singular, sondern unser Brot gib uns – in Freundschaft. Auch das macht das Vaterunser aus.

Von außen gesehen klingt die Vorstellung vielleicht langweilig oder stumpfsinnig, dass mit dem Vaterunser dieselben Worte ein Leben lang immer und immer wieder gebetet werden. Dabei ist es nicht anders als mit dem immer wiederholten „Ich liebe dich!“. Das würde nur dann unsinnig, wenn es leer geworden wäre und wenn es nicht mehr zum Anlass wird, eine Liebe neu zu leben. Genauso ist es auch mit dem Beten. Es hilft die Beziehung zu Gott zu pflegen und zu erneuern. Es wird oft nur routiniert gesprochen, und dann, auf einmal, merke ich, dass ein Wort oder ein Satz aus diesem Gebet wieder zündet und daraus ein lebendiges, neues, spannendes Gebet wird: Unser tägliches Brot gib uns heute, denn jetzt, in dieser Situation, heute, in diesem Leben, in dem es nicht selbstverständlich ist, genug zu haben, überwältigt mich die Freude und Dankbarkeit, dass da ein Gott ist, dem ich vertrauen kann, weit mehr als nur beim Broteinkauf.

Der Autor Pater Martin Löwenstein SJ ist Mitglied des Jesuitenordens und katholischer Priester. Er arbeitete als Religionslehrer und Dozent für politische Bildung, war Pfarrer einer englischsprachigen Gemeinde und Hochschulpfarrer an der Universität Frankfurt am Main. Seit 2009 ist er Pfarrer am katholischen Kleinen Michel der Gemeinde St. Ansgar in Hamburg.