Die Theater-Diva und Kultfigur Lilo Wanders wuchs in einer christlich geprägten Umgebung auf. Obwohl sie früh ihren Vater und einen Bruder verlor, glaubt sie an eine beschützende Kraft und an das Gute im Leben

Theater und Kirche verbindet für Lilo Wanders etwas Wesentliches. „Eine gute Predigt fasst zusammen, was für alle gilt, und berührt dabei doch jeden Einzelnen im Herzen“, sagt die Theater-Diva. Genau dies – da sei sie altmodisch – erwarte sie auch vom Theater: „Dass die Menschen verändert hinausgehen.“ Die Wahl ihrer Kirche liegt auf der Hand: die St. Pauli Kirche. Schließlich ist Lilo Wanders seit den 80ern auf dem Kiez zu Hause, hat sich – nur neun Gehminuten von der Kirche entfernt – hier überhaupt erst selbst erfunden.

Das war kurz nachdem sie 1988 zusammen mit Corny Littmann das Schmidt Theater an der Reeperbahn gegründet hatte. Mittlerweile ist die Kunstfigur, diese etwas zickige, alternde Theater-Diva um die 60, die der Hamburger Schauspieler Ernie Reinhardt, 59, entwickelte, längst im Alltag der Menschen angekommen. Im Laufe der Jahre sind sich er und die Diva immer näher gekommen und zu einer Person in zwei Verkleidungen geworden – oder umgekehrt: zwei Personen mit derselben Art, über die Welt zu denken. Lilo führt aber auch ein Eigenleben und moderiert Benefizveranstaltungen mit derselben Leidenschaft, mit der sie Gäste auf der „Tour de Wanders“ durchs Viertel führt. Und nur sie, nicht der Erfinder, gibt Interviews.

An der St. Pauli Kirche schätzt sie das soziale Engagement, das hier am Pinnasberg geleistet wird – für Bedürftige auf dem Kiez genauso wie für Flüchtlinge von Lampedusa. „Außerdem fühle ich mich mit Sieghard sehr verbunden.“ Sieghard Wilm, das ist seit gut elf Jahren einer der Pastoren der St. Pauli Kirche. Und laut Lilo Wanders einer dieser Menschen, die herzberührend predigen können.

Auf die Frage nach der eigenen Religiosität kommt Lilo Wanders als Erstes das Wort Fügung in den Sinn. Als „Schoßkind des Glücks“ schätzt sie sich selbst ein. „Brenzlige Situationen haben sich in meinem Leben immer aufgelöst, weil ich mich geschützt fühle, in irgendjemandes Hand.“ Vielleicht hat sie geprägt, dass sie früh mit dem Tod in Berührung kam. Sie war fünf, als der Vater starb, verlor mit sieben einen Bruder, mit 16 eine gute Freundin. „Mit dem Tod habe ich mich abgefunden“, sagt sie. „Er ist die Gegenseite des Lebens.“

Sie engagiert sich mit Benefizauftritten und spendet für konkrete Projekte

Eher wundert sie sich immer wieder über die Schönheit der Welt. Man müsse sich doch nur einmal ansehen, wie ein Organismus funktioniere, eine Pflanze, ein Tier, ein Mensch. „Das ist so wunderbar“, findet Lilo Wanders. „Deshalb denke ich, was das große Ganze angeht, kann das alles kein Zufall sein.“ Sie glaubt an einen Plan, eine Kraft, einen Drang zu Harmonie in der Welt. Vom strafenden Gott ihrer Kindheit hat sie sich deshalb schnell verabschiedet: „Der sah bei uns übrigens aus wie Johann Wolfgang von Goethe.“ Ein Foto des deutschen Dichters hing an der Seitenwand des Schranks im Schlafzimmer der Mutter. „Mit ihm wurde uns Kindern Angst eingejagt, wenn wir mal wieder etwas ausgefressen hatten“, erzählt sie. Dann hieß es immer, Opa Goethe werde böse! Taufe, Gottesdienstbesuche, Konfirmation – die „sehr evangelische“ Mutter erzog ihre Kinder in Dorfmark bei Soltau kirchennah. Die Religiosität der Mutter prägte die Kinder. „Ich habe schon vor der Schule lesen gelernt – mit einer Kinderbibel!“, sagt Lilo Wanders und lacht.

Ungefähr zu der Zeit, als Lilo Wanders Anfang der 90er-Jahre von der Bühne ins Fernsehen wechselt und auf VOX mit Studiogästen über „Wa(h)re Liebe“ spricht, tritt sie aus der Kirche aus. Aber nicht etwa, weil sich Themen wie Sexualität, Erotik und Religiosität ausschließen würden. Auch nicht, weil sie ihren Glauben verloren hätte. „Ich habe damals einfach plötzlich viel Geld verdient und fand es fragwürdig, wie viel davon die Kirche abbekommt, ich aber nicht wusste, wohin das Geld ging.“ Fortan spendet sie selbst für konkrete Projekte – auch kirchliche. Und sie entdeckt die Welt des Benefiz für sich. „Ich glaube, man kann Dinge bewirken – durch Wünschen und positives Denken.“ Und Handeln. 1995 kommen bei einer von ihr initiierten Spendengala im Hotel Atlantic 300.000 Mark zusammen. Sie bilden den Grundstock für die Finanzierung des Hospizes Leuchtfeuer in Hamburg – einer Einrichtung für Aids-Kranke. Bis heute glaubt Lilo Wanders an das Gute, versteht nicht, warum manche Menschen in Politik und Wirtschaft so machtbesessen sind. „Was wird ihnen diese Macht am Ende ihres Lebens nützen?“, fragt sie und antwortet selbst: „Nichts! Wenn da kein Mensch ist, der sie liebt – nichts!“

Bevor Lilo Wanders im Theaterstück „Blaue Jungs“ das erste Mal in der Öffentlichkeit auftritt, aus ihr dann in der legendären „Schmidt Mitternachts-Show“ im NDR die grantelnde Böse im Elektrorollstuhl wird und sie schließlich von 1994 bis 2004 zur Kultfigur in Sachen Aufklärung avanciert, gibt es auch Zeiten voller Zweifel. Ein instabiles Selbstwertgefühl, der Wunsch, in andere Rollen zu schlüpfen, um die eigene Identität zu finden, sie singt in einem Schwulenchor und spielt in Schwulentheatergruppen. „Das ist vorbei“, sagt Lilo Wanders heute. Sie ist selbst die Rolle ihres Lebens und hat eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Ganzen gefunden: „Leben! Und das in Harmonie.“

Sie genießt am Älterwerden vor allem die Gelassenheit und Harmonie

Seit 30 Jahren ist Lilo Wanders alias Ernie Reinhardt mit seiner Frau Brigitte verheiratet und hat mit ihr drei erwachsene Kinder. Wurden die religiös erzogen? „Bei mir gab es nie einen Plan“, erklärt Lilo Wanders. „Es gab Antworten auf Fragen. Und die so ehrlich und wahrhaftig wie möglich – egal ob es um Sexualität oder die Welt ging.“ Nur einmal stutzt sie und tut es bis heute: „Mein großer Sohn fragte mich: Wofür sind Menschen nützlich? Das konnte ich ihm nicht beantworten.“

Lilo Wanders genießt es übrigens älter zu werden. Was so schön daran ist? „Die Gelassenheit“, sagt sie. Und dass man plötzlich Dinge schön findet, die, wenn man jung ist, an einem vorbeirauschen. „In einer kristallklaren Nacht den Himmel zu sehen auf dem Land, das kann ein großes Glücksgefühl erzeugen.“ Oder bei einem Baby hinter dem Ohr zu schnuppern. „Die duften einfach wunderbar“, sagt Lilo Wanders. Sie weiß, wovon sie spricht. Sie hat mittlerweile eine Enkeltochter.

Tour de Wanders gibt es immer freitags um 21 Uhr und sonnabends jeweils 18.30 Uhr und 21 Uhr durch St. Pauli. Karten nur im Internet zu buchen unter: www.eventim.de, Stichwort Tour de Wanders.