Über europäische Gedenkkultur diskutieren Historiker

Merkwürdig fern ist der Erste Weltkrieg in der Erinnerungskultur der Deutschen, deren historisches Bewusstsein weit stärker durch die NS-Zeit mit Holocaust und Bombenkrieg geprägt ist. In Großbritannien, Russland und in Frankreich, aber auch in Polen sieht das ganz anders aus, dort wird das historische Ereignis mit seinen entscheidenden Weichenstellungen für den weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts intensiver reflektiert und sogar in der familiären Tradition viel stärker erinnert als hierzulande.

Schon 2012 hat die französische Regierung die Mission du Centenaire de la Première Guerre mondiale gegründet, die die Gedenkveranstaltungen von 2014 bis 2018 koordiniert, was der Historiker Nicolas Offenstadt grundsätzlich für eine gute Sache hält, zumal die Kommission Fachhistorikern aus verschiedenen Ländern eine wichtige Rolle zuweist. Die Überwindung von nationalen Sichtweisen ist für den namhaften französischen Ersten-Weltkriegs-Experten eine der zentralen Aufgaben. Unter dem Titel „Der große Krieg und die europäische Erinnerung“ diskutiert Offenstadt mit dem polnischen Publizisten Adam Krzemiński und dem Hamburger Historiker Rainer Nicolaysen über die unterschiedliche Wahrnehmung des historischen Geschehens.

Krzemiński, der als Redakteur bei der angesehenen polnischen Wochenzeitung „Polityka“ arbeitet, wendet sich gegen eine nostalgisch-verklärende Sicht auf das „alte Europa“, das vor 100 Jahren unterging. In einem Gespräch mit dem australischen Historiker Christopher Clark, dessen Buch „Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ die aktuelle Diskussion stark prägt, sagt er: „Wenn es heißt, 1914 gingen in Europa die Lichter aus, so muss man schon sehen, wie politisch finster es in vielen Teilen Europas vor 1914 zuging.“

Ein wesentliche Rolle für die Beurteilung von Kriegsursachen und Kriegsschuld spielten seit den 1960er-Jahren die Forschungen des Hamburger Historikers Fritz Fischer (1908–1999), mit denen sich Rainer Nicolaysen kritisch auseinandersetzt. Fischer, der an der Hamburger Universität lehrte, hatte 1961 sein viel beachtetes Buch „Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914–1918“ veröffentlicht und damit eine Kontroverse ausgelöst. Er vertrat die Meinung, dass der Erste Weltkrieg durch die imperialistische Politik des Kaiserreichs ausgelöst worden sei. Wörtlich schrieb er: „Da Deutschland den österreichisch-serbischen Krieg gewollt, gewünscht und gedeckt hat, und, im Vertrauen auf die deutsche militärische Überlegenheit, es im Jahre 1914 bewusst auf einen Konflikt mit Russland und Frankreich ankommen ließ, trägt die deutsche Reichsführung einen erheblichen Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges.“

Fischers These trug gewiss dazu bei, dass in der deutschen Öffentlichkeit ein weitverbreitetes Bewusstsein entstand, nicht nur für den Ausbruch des Zweiten, sondern auch des Ersten Weltkriegs die alleinige Verantwortung zu tragen. Das mag ein Grund für die verblassende und von späteren Ereignissen überlagerte kollektive Erinnerung gewesen sein. Fischer, der seine These später noch radikalisierte und die kaiserlich-deutsche Politik nahezu ausschließlich für den Kriegsausbruch verantwortlich machte, gilt heute als überholt. Historiker wie Christopher Clark zeichnen ein sehr viel differenzierteres Bild von dem Umständen des Kriegsbeginns, an dem alle beteiligten Mächte ihren Anteil hatten. Adam Krzemiński brachte es in einem „Die Zeit“-Gespräch mit Clark auf den folgenden Nenner: „Die Deutschen mögen nicht allein Schuld sein am Beginn des Ersten Weltkriegs, aber den Griff nach der Weltmacht gab es. Es gab ihn in Deutschland, und es gab ihn in England, in Frankreich und in Russland allemal.“

In der aktuellen Debatte gibt es auch ganz andere Aspekte, zum Beispiel dass der britische Bildungsminister Michael Gove 1914 mit deutlich nationalistischen Untertönen zu einem „gerechten Krieg gegen Deutschland“ aufrief – viel Stoff also für eine spannende Diskussion darüber, wie man sich in Europa an jenen großen Krieg erinnert, dessen Folgen bis heute zu spüren sind.

„Der Große Krieg und die Europäische Erinnerung“ 19.15–20.15, Seminarraum