Es ist das weltweit bekannteste Gebet – das Vaterunser. Aber wer weiß schon, was mit den einzelnen Bitten wirklich gemeint ist? Weil das Hauptgebet des Christentums nur scheinbar eine Selbstverständlichkeit ist, stellen wir es an dieser Stelle vor – in einer Reihe zu seinen sieben Bitten. Pastor Christian Butt erklärt den dritten Satz

Wenn man mit Jugendlichen über das Thema Gott ins Gespräch kommt, dann liegt oft eine Frage oben auf: Warum? Warum lässt Gott Leiden zu? Wenn er doch allmächtig, allgütig und allwissend ist, warum dann das Leiden auf der Welt? Und die Frage stellen sich nicht nur die aufgeweckten Jugendlichen unserer Tage, die Fragen hören auch im Erwachsenenalter nicht auf. Diese Anfragen im Ohr, stockt das Beten des Vaterunsers an der Stelle „dein Wille geschehe“, denn Hand aufs Herz: Wollen wir das tatsächlich? Soll Gottes Wille in der Welt Wirklichkeit werden, wenn dieser auch mit Leiden verbunden ist?

Allerdings – ein Gebet ist keine theologische Abhandlung und auch kein Lexikonartikel. Auch das Vaterunser nicht. Im Gebet geht es vielmehr um die Beziehung zu Gott. Vertrauen, Hoffnung und Zuversicht drücken sich darin aus. Da geht es nicht immer theologisch ausgewogen zu. Wenn man so auf die Bitte „dein Wille geschehe“ schaut, dann geht es um eine Haltung Gott und dem Leben gegenüber. Mag eine alte Fabel beim Verstehen helfen.

Unterwegs im Wald sah ein Mann einen Fuchs, der seine Beine verloren hatte. Er wunderte sich, wie das Tier wohl überleben konnte. Dann sah er einen Tiger mit einem gerissenen Wild. Der Tiger hatte sich satt gefressen und überließ dem Fuchs den Rest. Am nächsten Tag ernährte Gott den Fuchs wiederum mithilfe des gleichen Tigers. Der Mann war erstaunt über Gottes große Güte und sagte sich: „Auch ich werde mich in einer Ecke ausruhen und Gott voll vertrauen, und er wird mich mit dem Nötigen versorgen.“

Viele Tage brachte er so zu, aber nichts geschah, und der arme Kerl war dem Tode nahe, als er eine Stimme hörte: „Du da, auf dem falschen Weg, öffne die Augen für die Wahrheit! Folge dem Beispiel des Tigers und nimm dir nicht länger den behinderten Fuchs zum Vorbild.“ Auf der Straße traf der Mann ein kleines frierendes Mädchen in einem dünnen Kleid, ohne Hoffnung, etwas Warmes zu essen zu bekommen. Er wurde zornig und klagte Gott an: „Wie kannst du das zulassen? Warum tust du nichts dagegen?“ Eine Zeit lang sagte Gott nichts. Aber in der Nacht antwortete er dann ganz plötzlich: „Ich habe wohl etwas dagegen getan. Ich habe dich geschaffen!“

Die Fabel zeigt: Die Bitte im Vaterunser „dein Wille geschehe“ meint nicht eine Haltung, in der man sich passiv mehr oder weniger Gott oder dem Leben „ergibt“. Es geht nicht darum, sich in eine Ecke zurückzuziehen und tatenlos zu schauen, was im Leben so alles passiert, und gleichzeitig dabei zu meinen, Gott Raum für seine Aktivität zu geben. Vielmehr thematisiert die Bitte, den Willen Gottes hier und jetzt zu entdecken, etwa im eigenen Leben.

Dafür heißt es, offen zu werden. Für manchen mag so ein Blick neu oder fremd sein. Gedanken wie: „Nicht alles, was ich in meinem Leben erreicht habe, habe ich mir selbst zu verdanken. Vieles ist mir geschenkt. Es ist Gottes Wille, in meinem Leben.“ Wer sein Leben so versteht, der kann wohl auch manche Sackgassen, Irrwege und dunklen Momente annehmen und darauf vertrauen, dass Gott da ist oder ausharrt. Aber noch weiter gedacht. „Dein Wille geschehe“, so legt es die Fabel nahe, bedeutet auch, dass unsere Aktivität gefragt ist. Klar, es ist möglich, den Zustand der Welt zu beklagen und dabei immer neu nach Gottes Mitschuld zu fragen. Doch nimmt dies uns nicht aus der Verpflichtung für die Welt. Wir müssen uns selbst der Aufgabe stellen, Verantwortung für die Erde und das Leben zu übernehmen. Gottes Wille für die Welt ist klar, und er hat uns Menschen so viele Fähigkeiten geschenkt, aktiv zu werden und einzugreifen. Was für ein wunderbarer Gedanke: „Auch ich bin Gottes Beitrag für eine menschenfreundliche Welt.“ Sein Wille geschehe …!

Der Autor Christian Butt ist Studienleiter für Religionspädagogik und Beauftragter für Nachwuchsgewinnung bei der Nordkirche.