Es ist das weltweit bekannteste Gebet – das Vaterunser. Aber wer weiß schon, was mit den einzelnen Bitten wirklich gemeint ist? Weil das Hauptgebet des Christentums nur scheinbar eine Selbstverständlichkeit ist, stellen wir es an dieser Stelle vor – in einer Reihe zu seinen sieben Bitten. Edgar S. Hasse erklärt die zweite Bitte

Tausendmal gebetet - und nichts ist passiert. Wie oft schon wurde die zweite Bitte des Vaterunsers „Dein Reich komme“ von Menschen gesprochen – in Kirchen und im stillen Kämmerlein, in größter Not und vor dem nahen Tod. Aber das Reich Gottes kam nicht. Seine Herrschaft und Macht kamen nicht, als die Soldaten in Stalingrad starben und Millionen von Menschen in den Konzentrationslagern ermordet wurden. Und es kommt wohl auch heute nicht, wenn Männer, Frauen und Kinder im Kugelhagel der Bürgerkriege sterben und Tausende täglich verhungern.

Die zweite Bitte des Vaterunsers, das Jesus selbst seine Anhänger gelehrt hat, ist für Christen wirklich eine Zumutung. Wie lange sollen wir noch beten, bis endlich etwas passiert? Bis Gottes Herrschaft sichtbar, greifbar, hörbar ist und endlich alle miteinander in Frieden leben können und erlöst sind? Schon der Reformator Martin Luther schrieb 1519 mit klagendem Ton in seiner „Deutschen Auslegung des Vaterunsers für die einfältigen Laien“: Diese Bitte „demütigt uns“ – und zwar dadurch, dass die Christen immer wieder öffentlich bekennen müssten, dass Gottes Reich noch nicht gekommen sei. „Wenn das mit Ernst bedacht und von Herzensgrund gebetet wird“, so schreibt der Wittenberger Reformator, „so ist das zum Erschrecken und muss jedes rechtschaffene Herz mit Recht betrüben und sehr in Kummer versetzen. Denn daraus folgt, dass wir noch verstoßen, in der Fremde und unter grausamen Feinden sind, des allerliebsten Vaterlands beraubt.“

Das ist aber nur die eine Facette. In der ewigen Reich-Gottes-Bitte drückt sich das Sehnen der menschlichen Seele aus, dass Leid und Tod, Ungerechtigkeit und Armut auf dieser Welt nicht das letzte Wort haben. Die zweite Bitte ist daher ein großartiges Wort der Hoffnung, das den Blick vom Irdischen auf das Himmlische lenkt. Wer so betet, wünscht sich Vollendung am Ende dieser Zeit – ein Aufatmen der ganzen Schöpfung. Er hofft auf Gottes Handeln. Wer so betet, ist übrigens vor Gott kein bloßer Bittsteller oder gar ein Untertan in seinem Königreich. Es ist vielmehr wichtig, diese Bitte im Kontext mit der „Vater“-Anrede zu lesen: Es beten Kinder zu ihrem Vater und nicht Befehlsempfänger zu ihrem Herrscher.

Die zweite Bitte ist auch eine Frage und ein Appell an das eigene Handeln. Welche Möglichkeiten hat der Mensch, am Reich Gottes auf dieser Welt mitzuwirken? Insbesondere die Aufklärung mit Gotthold Ephraim Lessing und Immanuel Kant stellte die ethische, moralische und pädagogische Dimension der Reich-Gottes-Vorstellung in den Mittelpunkt. Durch die „Erziehung des Menschengeschlechts“ (Lessing) und die Realisierung des höchsten Guts durch Pflichterfüllung (Kant) nimmt das Reich Gottes auf Erden Gestalt an, meinten sie.

Bei aller Mitarbeit am religiösen Ethos, das sich an den Zehn Geboten und an der Bergpredigt orientiert, sollte allerdings göttliches Handeln nicht in menschliches Handeln aufgelöst werden. Es bleibt die Hoffnung, dass zu guter Letzt tatsächlich Gott handelt, redet, tröstet, Gerechtigkeit schenkt und versöhnt. So kann diese zweite Bitte auch als Gabe verstanden werden: Jesus hat uns ein Wort überliefert, das alle Erwartungen und Hoffnungen auf den Schöpfer und Vatergott richtet.

Neben der Zumutung und der Hoffnung, die das Gebet vom Reich Gottes auslösen kann, schärft es schließlich den Blick für die ganz andere Wirklichkeit: Das Reich Gottes hat nämlich längst begonnen. Es wächst zunächst im Verborgenen, wie es Jesus in seinem Gleichnis vom Senfkorn (Matthäus 4, 30-32) beschrieben hat. Es nimmt weiter Gestalt an, wenn das Evangelium in den Gottesdiensten und im Alltag der Menschen als christliches Verständnis der Wirklichkeit kommuniziert wird. Es ist lebendig, wenn die Eucharistie gefeiert wird und Menschen einander ihre Verletzungen und Schuld vergeben.

Der große Wendepunkt ist die Auferstehung Jesu. Damit hat Gott denen, die an ihn glauben, ein weiteres Zeichen seiner Nähe und Liebe geschenkt. Das war Ostern vor annähernd 2000 Jahren so. Und ist es noch heute, an diesem Tag.