Schon beim Aufwachen denkt Jil an nichts anderes, als an das Klaviervorspiel am Nachmittag. Je näher der Auftritt rückt, desto nervöser wird die Schülerin. Hier beschreibt sie, was in ihrem Kopf vorgeht.

Ausschlafen. Sich irgendwohin träumen. Sonnenwärme spüren. Es ist fünf Uhr in der Früh. Traumhaft Schönes zu träumen ist in dieser Minute absolut tabu. Funktioniert nicht. Weiterschlafen unmöglich. Denn an diesem Sonntagmorgen ist hundertprozentig alles anders als sonst. Anders als gestern, übermorgen und in einem Jahr. Und das lässt sich jetzt nicht mehr wegdenken, schon gar nicht wegreden. Nur eines geht: ich kann es wegspielen. Hellwach bin ich. Es ist nun 5.04 Uhr. Das nehme ich erst jetzt richtig wahr. Mein Herz klopft. Im Rhythmus. Die Uhr tickt im Takt. Den Takt halten. Ja, das muss auch ich heute. An diesem Tag, an dem nichts sein wird, wie es war.

Wäre ich doch eine Uhr, denke ich für eine Sekunde. Es wäre dann federleicht, im Takt zu bleiben. Vor allem bei Bach. Johann Sebastian Bach muss man spielen wie das gleichbleibend mechanische Ticken einer Uhr, sonst ist es nicht der Bach. Ich kann jetzt nicht mehr einschlafen. Dabei sollte ich ausgeruht sein. Für den Nachmittag, wenn all die tausend Tasten vor mir liegen, ich gefühlt tausend Noten spiele und alle Augen und Ohren im Saal auf mich gerichtet sind. Ich beruhige mich damit, die Noten im Geiste wieder und wieder rauf und runter zu spielen. Note um Note. Ich sehe Taste für Taste vor mir. Die Noten rasen wie ein Schnellzug durch mein Gehirn. Das hilft. Um kurz nach sechs schlafe ich erschöpft ein. Mit dem beruhigenden Geräusch eines ratternden Zuges in den Ohren. Im hintersten Abteil höre ich, wie jemand meine Stücke spielt. Fehlerlos. Von Chopin, Bach und Beethoven.

Hell ist es. 9.53 Uhr. Ausgeruht und jetzt hellwach stehe ich auf. Hell ist auch mein Blazer, der Rock, die Schuhe, weiß und beige. So gehe ich in die Küche und esse etwas. Lecker. Den Appetit verschlägt es mir nicht in solch aufregenden Momenten. Zu gerne esse ich und zu sehr freue ich mich darauf, dass es endlich bald so weit ist.

Vergessen ist die „Fünf-Uhr-in-der-Früh-Aufregung“. Denn hinter so einem Vorspieltermin steckt monatelange Vorbereitung. Mehr als hundert Kinder und Jugendliche im Alter zwischen fünf und 16 Jahren aus der ganzen Welt finden sich hier in Hamburg ein und spielen. Oft kommen Kinder aus Italien oder Japan angereist. Was für eine weite Reise, denke ich. Von Mailand nach Hamburg, höre ich im Gespräch am Nebentisch. Mit dem Auto sind sie gefahren, Flüge waren zu teuer. Das Mädchen aus Mailand ist aufgeregt, aber konzentriert. Wie ich. Aber meine Anreise ist doch entspannter. Wobei mir die Zeit im Auto wie eine Ewigkeit vorkommt. Obwohl wir nur 25 Minuten unterwegs sind, macht sich eine Langeweile, gemischt mit Aufregung und Konzentration, breit, die nicht enden will. Endlich da. Aussteigen. Spielen, was man monatelang geübt hat und hoffentlich Freude bereitet. Das geht mir um kurz vor zwei durch den Kopf.

Freundlich werde ich begrüßt von einer Mitarbeiterin, die mir sofort ein Glas Wasser anbietet. Doch in diesem Augenblick sehe ich das Paradies. Wohin ich auch schaue, links, rechts, direkt vor mir und weit hinten, sie stehen überall. Flügel und Klaviere. Große, kleine, weiße, schwarze, braune Flügel. Alle in diesem riesigen Raum. Wie gerne würde ich jetzt an jedem spielen wollen. Doch das geht nicht. Kurzfristig enttäuscht setze ich mich an nur einen dieser über zwei Meter großen schwarzen Flügel. Umgeben von all den anderen Klavieren schaue ich aus hohen Fenstern hinaus auf die Straße. Auf meine Stücke muss ich mich jetzt konzentrieren. Wie gut, dass meine Lehrerin dabei ist. „Das beste Mittel gegen Lampenfieber ist eine gute Vorbereitung“, sagt sie. Das finde ich gut.

Der Moment rückt näher. Die Tastenprobe ist durch. „Du bist die Nächste“, sagt mir die freundliche Dame um Punkt 15 Uhr und winkt mich an die hohe weiße Tür. Nach nur wenigen Sekunden schon öffnet sich die Tür. „Du kannst jetzt auf die Bühne gehen“, sagt mir einer der Juroren und lächelt ein wenig. Mein Herz klopft. Ich denke an die tickende Uhr, an das Rattern des Zuges. Meine Knie zittern. Konzentration. Ruhig wird es im Saal. Ich konzentriere mich nur noch auf die weißen breiten und schmalen schwarzen Tasten des wunderschönen Instruments. Schultern locker lassen, Fuß aufs Pedal legen, die Hitze, die in mir hochkommt, ignorieren. Gefühlt tausend Tasten springen mir ins Gesicht. Nicht verspielen, im Takt bleiben. Pausen machen. Adaggio, Andante, Mezzo piano.

Nein, ich habe keine Angst vor den Tasten. Es sind doch nur 88, denke ich und fange endlich an zu spielen.