Vor zwei Jahren zog Mariam von Ägypten nach Deutschland. Sie erzählt, wie sich das Leben in Hamburg von dem in ihrer Heimat unterscheidet

Die größten Probleme von vielen deutscher Jugendlichen sind: ,,Das iPhone5 ist rausgekommen, aber zu meinem Geburtstag bekomme ich nur das iPhone4“ oder ,,Meine Eltern bezahlen mir keine Internet-Flatrate. Ich weiß nicht, was ich tun soll“.

Habt ihr vielleicht schon mal darüber nachgedacht, wie es ist, andere Probleme zu haben? Größere Probleme? Wichtigere Probleme? Habt ihr schon einmal darüber nachgedacht, wie es ist, alles zurücklassen zu müssen, was man kennt und liebt? Auf einmal alles zu verlieren: die Verwandten, die Kultur und das Leben, wie ihr es kennt? Wie es ist, plötzlich in einem fremden Land zu leben?

Vor zwei Jahren fragt mein Vater mich plötzlich: „Hey, Mariam. Willst du nach Deutschland ziehen?“ Damals lebten wir in Ägypten, mein Vater, meine zwei Schwestern, meine Stiefmutter und ich. Nachdem mein Vater den Tod meiner Mutter endlich bewältigt hatte, heiratete er eine deutsche Frau. Sie hatten sich durch den Job meines Vaters als Reiseführer kennengelernt und geheiratet. Dann wurde meine Stiefmutter im Alter von 43 Jahren schwanger.

Mein Vater hatte Germanistik studiert und beherrschte die deutsche Sprache also ziemlich gut. Er schätzte die Überlebenschancen meiner Stiefmutter und des Babys im Falle einer komplizierten Geburt in seinem Heimatland Ägypten wegen der unsicheren medizinischen Versorgung und der aktuellen gefährlichen Lage als gering ein. Und da die besseren, für uns durch ein Familienvisum möglichen Lebensbedingungen in Deutschland einladend und verführerisch für meinen Vater waren, schlug er der Familie vor, nach Deutschland zu ziehen.

Damals war ich zwölf Jahre alt, sehr kindlich und abenteuerlustig. Ich dachte, ich würde die Welt verstehen, und beantwortete die Frage meines Vater mit „Ja, wieso nicht? Wenn es nicht funktioniert, besteht die Möglichkeit immer noch, zurückzukehren.“ Ich hatte nicht viel weitergedacht, als ein kleines Kind, das nur haben wollte. Ich hatte nicht daran gedacht, dass ich ein neues Leben anfangen musste, kein Deutsch sprach und dass wir unsere Familie ab jetzt nur einmal im Jahr sehen würden – in den Sommerferien, die von der Länge her im Vergleich zu den Ferien in Ägypten sehr kurz sind. Ich dachte auch nicht daran, wie sich meine Schwestern fühlten. Sie waren unserer Heimat Ägypten enger verbunden als ich und nicht so offen fürs Neue wie ich. Und ich dachte nicht daran, dass alles anders werden würde. Alles. Das Wetter, die Schule, die Arbeit, das Leben.

Wir bereiteten uns auf die Abreise vor. Doch so einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte, war es nicht. Es galt, Formulare auszufüllen, zur Behörde zu gehen, nach Hause geschickt zu werden, weitere Formulare auszufüllen, ein Visum zu beantragen. Meine Schwestern und ich nahmen Deutschunterricht bei meinem Vater. Ich lernte vor allem Zahlen und lachte meinen Papa wegen seiner komischen Aussprache aus.

Wir packten unsere Koffer. Pro Passagier 20 Kilogramm. Was nehme ich mit? Wie packe ich zwölf Jahre meines Lebens, meine komplette Kindheit, in einen Koffer? Was ist wichtig, was nicht? Alles konnte ich nicht mitnehmen, ein Teil von mir musste zurückbleiben: meine Verwandten, meine Freunde, meine Nachbarn. Nur eines konnte ich ganz sicher mit auf die Reise nehmen: meine Erinnerungen.

Der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, als wir in Deutschland das Flugzeug verließen: Es regnet! Da es in Ägypten fast nie regnet, war das fast wie ein Wunder. Die feuchte, klare und saubere Luft, die Ordnung, der Verkehr. Vor allem die Ampeln faszinierten mich. Mein Vater hatte viel von Deutschland geschwärmt und erzählt.

Es war schön, doch das Heimweh und die Sehnsucht danach, aus dem Fenster zu schauen und die Pyramiden zu sehen, einen langen Abend im Kreis der großen ägyptischen Familie zu verbringen, war groß. Deutschlands Schönheit konnte mir Ägypten nicht ersetzen.

Wir machten Ausflüge in den Wildpark, ins Maislabyrinth, zum Eselspark, an die Außenalster, in den Stadtpark. Aber mit der Zeit wurden die Ausflüge weniger. Meine Stiefmutter war schon hochschwanger und konnte immer weniger verkraften. Das Kind kam zu früh zur Welt. Es wurde in der Zeit des Ramadan geboren. Ramadan heißt der Monat, in dem Muslime fasten. Wir unternahmen wenig, da wir fasteten und erst gegen zehn Uhr abends essen und trinken konnten.

Ich lernte Fahrrad fahren und wurde von Kleinkindern ausgelacht, die es viel besser konnten als ich. Meine Stiefmutter sagte: ,,Besser spät, als nie.“ Das habe ich erst viel später übersetzt bekommen.

In Hamburg feiert man wenige Feste. Solche Festessen, wie ich sie von zu Hause kenne, gibt es hier nicht. Die Menschen hier sind anders, sie denken anders als die, mit denen ich aufgewachsen bin. Ihnen sind andere Dinge wichtig. Und so blieben wir überwiegend zu Hause, trafen uns mit niemandem. Mit wem auch? Wir kannten ja niemanden. Aber dann begann die Schule, und ich lernte Deutsch. ,,Der Schlüssel zu Deutschland ist die Sprache“, sagte Papa.

Ich konnte mich endlich unterhalten, und vor allem lernte ich, die Menschen in Hamburg zu verstehen. Ich passte mich an. Und nach all den anfänglichen Schwierigkeiten schafften wir es, uns einzuleben und ein Leben aufzubauen. Mein Vater hat jetzt einen Job in einem Hotel. Meine Schwester und ich besuchen beide Gymnasien, und meine älteste Schwester, die das Abitur in Ägypten gemacht hat – es wird hier nur als Realschulabschluss anerkannt – macht jetzt ein freiwilliges soziales Jahr in einer Kita. Sie will das Studienkolleg besuchen, um hier studieren zu können.

Die deutsche Lebenseinstellung und Denkweise gefiel mir plötzlich teils besser als die ägyptische. Das wiederum gefiel meinem Vater nicht. So entstanden Konflikte, die manchmal nur dadurch lösbar waren, dass ich einfach nickte und meinem Vater zustimmte.

Eine Freundin, die auch nicht aus Deutschland stammt, fragte mich einmal: „Bereust du es nicht, dass du dich für Deutschland entschieden hast?“ Momentan lebe ich lieber in Deutschland. Die Menschen sind offener und kommen schnell zum Punkt. „Man redet nicht um den heißen Brei herum“, wie man hier so schön sagt. Man ist frei, kann jeder Zeit irgendwohin fahren. Man ist viel selbstständiger.

In Deutschland ist es nicht so voll, stickig und heiß. Bei der Hitze in Ägypten, die manchmal unerträglich ist, kann man nicht viel machen, außer zu Hause vor dem Computer oder Fernseher zu hocken. Im Vergleich kann man in Deutschland fast alles machen. Ich vermisse den ägyptischen Humor und die Freundlichkeit, doch komme ich hier besser mit den Menschen klar. Ich bin hier zufriedener und glücklicher. Ich habe hier das Gefühl, dass es sich lohnt, zu leben. In Ägypten haben die Menschen viele Probleme und Sorgen. Ich habe Ägypten nicht im Stich gelassen. Während der Ferien kann ich in meine Heimat reisen. Wenn ich wollte, könnte ich auch wieder in Ägypten leben. Ich mag Deutschland, und ich mag meine Heimat Ägypten.