Sie gelten in Europa als Grundlage der Moral im Zusammenleben. Auf ihnen fußen Gesetzgebung und ethisches Empfinden. „Du sollst nicht töten“, das leuchtet noch ein. Aber was heißt, „nicht falsch Zeugnis reden“ in Zeiten von Facebook? Was sagen uns die Zehn Gebote heute? Wer sie heute interpretiert, muss versuchen, sie in die Gegenwart zu übersetzen. Das 10. Gebot, nach reformierter Zählung, interpretiert Dr. Jörg Herrmann, Direktor der Evangelischen Akademie der Nordkirche

Ich auch!“ sind zwei Wörter, die ich als Vater zweier kleiner Jungs sofort zu hören bekomme, wenn ich einem der beiden etwas gebe, was der andere nicht oder noch nicht hat. Ich habe darum immer schon zwei Schokoladeneier oder auch zwei Spielzeugautos dabei. Am besten, sie sehen genau gleich aus. Denn schon der kleinste Unterschied kann das übergriffige Verlangen entfachen. Das Begehren der Güter des Nächsten ist eine starke Kraft. Nicht nur im Kindesalter. Sicher, bei den Erwachsenen artikuliert sie sich längst nicht so spontan und direkt. Aber hier kann sie erheblich mehr Unheil anrichten. Darum ist es gut, immer wieder an das zehnte Gebot zu erinnern. Luther hat übersetzt: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines nächsten Weib, Knecht, Magd, Rind, Esel, noch alles, was dein Nächster hat.“ Spätere Übersetzer haben darauf hingewiesen, dass das verwendete hebräische Verb noch mehr meint als bloßes Begehren. Es sei mit „trachten nach“ besser übersetzt. Es geht um den Übergang vom Wollen zum Tun, vom Sich-gelüsten-Lassen zum spontanen oder auch von langer Hand geplanten Handeln.

Oft ist Neid im Spiel. Im Individuellen ebenso wie in der Gesellschaft. Der Historiker Götz Aly sieht im Neid eine wesentliche Ursache für die Entwicklung des mörderischen Antisemitismus in Deutschland. Die Deutschen, schreibt Aly, „beneideten die Juden um ihre Weltläufigkeit, Urbanität und Auffassungsgabe, um ihr kaufmännisches Geschick und ihre Bildung“. Auch darum haben sie ihnen nach und nach alles genommen, was sie hatten, erst ihre gesellschaftliche Stellung, dann ihren Besitz und zum Schluss ihr Leben.

Der Sinn der Gebote ist, das Leben aller zu schützen. Sie wollen die destruktiven Kräfte zähmen und die Freiheit erhalten und fördern. Das geht nur mit Respekt vor dem Hab und Gut anderer. Denn im Zusammenleben sind wir voneinander abhängig. Die sogenannte goldene Regel macht diesen Zusammenhang deutlich. Sie fasst einen wichtigen Teil der Zehn Gebote zusammen. In der Reimform: „Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg auch keinem andern zu.“ Möchte ich, dass man mir das Auto stiehlt, die Frau ausspannt, mich gewaltsam enteignet? Natürlich nicht, also: Du sollst nicht begehren …

Gegen das neidische Begehren und Trachten helfen manchmal auch die Fragen: Brauche ich das wirklich? Will ich wirklich mit dem anderen tauschen? Der Porsche 911 ist ein schönes Auto. Aber für meinen Alltag komplett ungeeignet. Das Geld des Investmentbankers hätte ich schon gern, aber möchte ich meine Lebensarbeitszeit mit Aktienkursen am Computer verbringen?

Noch darüber hinaus geht die selbstkritische Frage, wie sehr ich Materielles zum Lebensziel erklärt habe. Ich meine nicht das tägliche Brot, das wir brauchen und um das wir zu Recht bitten. Es geht um die Frage, ob wir Geld und Gut zu unserem Lebensinhalt gemacht haben, ob unser Herz daran hängt, ob Haus und Hof, Aktiendepots und Immobilienbesitz zu unseren heimlichen Götzen geworden sind, denen wir mehr dienen, als wir zugeben wollen. Diese Frage erinnert an das erste Gebot, in dem es um das Verbot fremder Götter ging, um das Thema Götzendienst. Und sie lässt an die Geschichte vom reichen Jüngling denken, der so sehr an seinen Gütern hing, dass er Jesus nicht nachfolgen konnte. Die Güter hingen wie Blei an seinen Gliedern. Er war dann doch am vorletzten Gut kleben geblieben. Auch davor wollen die Zehn Gebote bewahren.