Schon seit zehn Jahren liest Schauspielerin Herma Koehn am Ewigkeitssonntag die Namen der einsam in Hamburg Verstorbenen vor. Für ihren Glauben spielt das eine wichtige Rolle – auch wenn sie selbst nicht mehr Teil der Kirche ist

Sie fährt diesen alten Saab, als sei es ein alter Freund, und wenn man sie danach fragt, dann lächelt sie. „Vor 19 Jahren habe ich ihn gekauft, da war er zwei Jahre alt“, sagt Herma Koehn und nimmt den Blick nicht von der Straße. Bis sie den Wagen geparkt hat. „Und nun habe ich den Ehrgeiz, ihn zum Oldtimer zu machen“, sagt sie. Die Liebe zu den Menschen und zu den Dingen – Herma Koehn könnte stundenlang darüber reden. Sie bestellt Cappuccino und ein Stück Pflaumenkuchen, es ist viel los im Café Bobby Reich, direkt an der Alster. Die Liebe ist ein Thema, das sie bewegt. So wie der Glauben und die Kirche, aus der sie vor langer Zeit ausgetreten ist. Für sie liegt darin kein Widerspruch. Und deshalb wird sie auch in diesem Jahr wieder am Ewigkeitssonntag in der Hauptkirche St. Petri die Namen der einsam in Hamburg Verstorbenen verlesen.

Schon im zehnten Jahr ist sie dabei, es ist ihr zum Bedürfnis geworden. Weil sie merkt, dass die Menschen es annehmen, wenn sie diesen Gottesdienst gestaltet. Und weil er auch ihr die Chance gibt, Abschied von denen zu nehmen, die ohne ihr Wissen gestorben sind. Ihr alter Hausarzt zum Beispiel, oder die Nachbarn, da war sie gerade im Urlaub. Eine Freundin, die sie telefonisch nicht mehr erreichen konnte. „Noch einmal eine Kerze anzuzünden und an denjenigen zu denken, der plötzlich nicht mehr da ist: Für mich ist das ein sehr schöner Moment.“ Die Verstorbenen, um die es beim Ewigkeitssonntag geht, kennt niemand. Sie sind allein gestorben und werden auf Staatskosten begraben, weil niemand anders es tun könnte. Junge und Alte, Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Während Herma Koehn und ihr Schauspielkollege Wolfgang Hartmann die Vornamen der Toten vorlesen, kommen die Gottesdienstbesucher nach vorne und entzünden eine Kerze und legen einen Stein auf ein Kreuz aus Herbstlaub.

Herma Koehn, 69, könnte das auch als PR-Ding begreifen, ganz leicht ginge das. Einfach in den Gottesdienst setzen, schau mal, die Koehn kümmert sich um die Einsamen, dann kurz was lesen und wieder gehen. Aber so ist es nicht, und Herma Koehn könnte das auch gar nicht. Sie meint immer sehr ernst, was sie tut. Nur schwer kann sie verbergen, wenn ein Moment sie bewegt.

Die christlichen Feiertage sind ihr sehr wichtig, besonders Weihnachten

Auf den Ewigkeitssonntag bereitet sie sich wochenlang vor, sowohl seelisch als auch schauspielerisch. Sie schreibt Theaterszenen um, sucht überhaupt nach Stoffen, die sich für diesen Anlass dramatisieren lassen; bei Ibsens „Jon Gabriel Borkmann“ hatte sie kürzlich gehofft, fündig zu werden. Auch in den vielen Büchern zum Thema fand sie nichts. Das derzeit sehr laut beworbene Buch „Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“ sei etwas enttäuschend gewesen. Nun werde sie Erinnerungen an Gespräche mit Sterbenden verlesen, die Pastor Dircks geführt hat. „Das wird sicher sehr schön sein“, sagt Herma Koehn.

Sie hat ein feines Gesicht, dünne Augenbrauen, ein sanftes Kinn. Auf die Frage, ob sie die christlichen Feiertage trotz Kirchenaustritts begehe, sagt sie: „Weihnachten? Natürlich. Das ist doch sein Geburtstag.“ Und dann lacht sie und sticht mit der Gabel in das Stück Kuchen auf ihrem Teller. Die Frage hat sie gefreut. Über Jesus könnte sie den ganzen Nachmittag sprechen

Er war sicher nicht der Grund, warum sie der evangelischen Kirche den Rücken zugewandt hat, „ich habe Probleme mit der Institution an sich“, sagt sie und zieht die Schultern nach oben, „für mich hat das teilweise nur noch sehr wenig mit dem zu tun, was Jesus mal gewollt hat.“ In keiner der Weltreligionen habe sie als Frau ihren Platz gefunden. So ist in ihr der Wille zur Abkehr gewachsen.

Es ist ihr sicher nicht leichtgefallen. Als Mädchen hatte sie begonnen, im Kirchenchor zu singen, dann wollte sie mehr wissen über diese Gemeinschaft, die ihre Eltern ihr in der Erziehung nicht nahegebracht hatten. „Die Kirche war der einzige Ort, an dem ich befreit singen konnte, ohne dass jemand gleich Kritik übte. Mir hat das damals sehr viel bedeutet. Und dann wollte ich natürlich dazugehören. Ich wurde getauft und konfirmiert – auf meinen eigenen Wunsch.“ Ihren Konfirmationsspruch aus dem Lukas-Evangelium kann sie noch heute auswendig aufsagen: Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir, weiche nicht, denn ich bin dein Gott, ich schütze dich, ich helfe dir und halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit. „Und das finde ich schön“, sagt Herma Koehn. Das ist zum Beispiel so ein Moment, in dem man ihr ansieht, wie sehr sie das rührt.

Viele Hamburger kennen Herma Koehn als festes Ensemble-Mitglied des Ohnsorg-Theaters, von 1968 bis 2001 hat sie dort gespielt, sieben Tage die Woche, lange Zeit als alleinerziehende Mutter. Mit 56 Jahren verließ sie das Theater, seitdem arbeitet sie frei und spielt, wozu sie Lust hat – die „Kalender Girls“ zum Beispiel, ein großer Erfolg, mit dem sie auch auf Tournee gegangen ist. Diese neue Freiheit fühle sich gut an, sagt sie.

Dankbarkeit und Demut, viel Zuversicht, all das hat sie von Jesus gelernt

Denn Schauspielerin ist Herma Koehn auf Umwegen geworden. Zunächst musste sie eine Lehre zum Sparkassenkaufmann bei der Haspa absolvieren – die Mutter hatte darauf bestanden. Und doch verlor Herma Koehn nie den Glauben an ihren großen Traum von der Bühne. „Auch wenn es nun nicht die ganz große Bühne geworden ist, die man sich ursprünglich mal erträumt hatte“, sagt sie und lächelt alle Wehmut fort. „Einen Goethe oder Kleist hätte ich schon gern einmal gesprochen. Aber das kann ja noch kommen!“ In diesem Satz liegt sehr viel von Herma Koehn. Die Dankbarkeit und die Demut, viel Zuversicht, ihre Liebe zum Leben – und den Mitmenschen: All das hat sie auch von Jesus gelernt. Sooft sie kann, liest sie Texte über sein Leben, hört Vorträge Eugen Drewermanns auf YouTube. „Und ich habe das Gefühl, dass ich mit meiner Art, meinen Glauben zu leben, den Menschen etwas geben kann.“ Was diese Menschen dann in ihr sehen? Vielleicht nur eine Frau, die voller Zärtlichkeit über einen alten Saab sprechen kann. Wahrscheinlich aber so vieles mehr.