Sie gelten in Europa als Grundlage der Moral im Zusammenleben. Auf ihnen fußen Gesetzgebung und ethisches Empfinden. „Du sollst nicht töten“, das leuchtet noch ein. Aber was heißt, „nicht falsch Zeugnis reden“ in Zeiten von Facebook? Was sagen uns die Zehn Gebote heute? Wer sie heute interpretiert, muss versuchen, sie in die Gegenwart zu übersetzen. Das 9. Gebot, nach reformierter Zählung, interpretiert Stephan Loos, Leiter der Katholischen Akademie

Sie lästern, lügen und verleumden – so mancher Prominente in seiner Biografie ebenso wie der Unbekannte in sozialen Netzwerken. Das sind meine ersten Assoziationen bei der Lektüre des 9. Gebotes. Auf den zweiten Blick ertappe ich mich dann selbst bei der einen oder anderen fälschlichen Bemerkung.

Der historische Hintergrund des neunten Gebots ist allerdings ein anderer: Im Bereich der Rechtsprechung sollte der Appell, als Zeuge vor Gericht nicht falsch auszusagen, den Einzelnen in seinem Freiheits- und Lebensraum schützen. Schließlich galt in Israel ein Angeklagter durch die übereinstimmende Aussage von zwei Zeugen in Prozessen mit möglichem Todesurteil als überführt. Angesichts dieser gravierenden Folgen einer Zeugenaussage war die Versuchung, Zeugen zu bestechen oder selbst falsch auszusagen, verlockend groß. So zielte das 9. Gebot auf das Gewissen des Zeugen, nicht mit einer Falschaussage den anderen seiner Freiheit zu berauben und damit auch gegen den Gott des Exodus zu handeln, der den Menschen doch diese Freiheit nach der Gefangenschaft in Ägypten erst wieder eröffnet hatte.

„Du sollst nicht Falsches gegen deinen Nächsten aussagen“, diese Begrenzung dient dazu, die Freiheit und Würde des Menschen zu schützen. Denn dass diese beschädigt wird, wenn Menschen Lügen über andere verbreiten und über sie herziehen, bestätigen die Opfer solchen Verhaltens und wissen wir selbst aus eigener Erfahrung. Das 9. Gebot markiert wie die anderen der Zehn Gebote die Voraussetzungen für ein Leben in Freiheit – aber wohl nur den Mindeststandard. Denn wenn die Zehn Gebote „Anweisungen für das Land der Freiheit“ (Fulbert Steffensky) sind, dann könnte das Verhalten des Zeugen auch noch ganz anders aussehen. Schließlich ist die Tatsache, dass ich nicht (mit)lüge, noch kein bahnbrechender Anstoß zur Entfaltung schöpferischer Freiheit meines Mitmenschen. So habe ich die Fantasie, dass ich als Zeuge auch Einspruch gegen die Falschaussagen anderer erhebe.

Auf den Zusammenhang von Einspruch und Zeugnis hat der französische Philosoph Paul Ricœur aufmerksam gemacht, indem er auf die lateinische Herkunft des Wortes „Zeuge“ hingewiesen hat: als Zeuge (lat. testis) muss ich einen Protest, einen Einspruch, einlegen, bevor ich etwas bezeugen kann. Ich beteilige mich also nicht nur nicht an den Lästerungen der anderen oder vermeide es, Falschheiten über einen Dritten zu verbreiten. Ich werde zum Zeugen meines Mitmenschen, indem ich öffentlich dafür einstehe, dass er nicht so ist wie das Zerrbild, das von ihm gezeichnet wird. Ich stelle mich in seinen Dienst, berichte, wie ich ihn erlebt habe, versichere, dass dies die Wahrheit ist, und setze mich mit meiner Existenz für den anderen ein – gegen die Lüge und Lästerung, die ihn in seiner Freiheit bedroht.

Ein solches Zeugnis wäre alles andere als ein gehorsames, reproduzierendes Weiterreichen von etwas, was ich erlebt habe. Es wäre ein mutiger Akt der Freiheit mit der Intention, die Freiheit des anderen zu schützen und zu bewahren.

Ob ich den Mut zu einem solchen Zeugnis haben werde und dauerhaft zu ihm fähig bin, wage ich zu bezweifeln. Also kehre ich besser von der Ebene der Fantasie wieder zurück zur Realität mitmenschlichen Zusammenlebens und bemühe mich vorerst, dem 9. Gebot zu entsprechen und nichts Falsches gegen meinen Nächsten auszusagen.