Der Stadtteil muss den Wandel der ehemaligen Brache am Wasser zum angesagten Wohnquartier als Chance nutzen

Harburg . Mit der Binnenhafen-Entwicklung hat Harburg die einmalige Chance, sich ein neues, positives Selbst- und Fremdbild zu erarbeiten, wenn alle Protagonisten an einem Strang ziehen. Dabei ist der Begriff Industriekultur das verbindende Element. Dass es im Binnenhafen mal tausende von Industrie-Arbeitsplätzen gab, ist bald nicht mehr zu sehen. Dabei war hier einst das Ruhrgebiet Hamburgs entstanden, indem ab 1850 reiche Leute - auch aus Hamburg - in die Ansiedlung von Industriegebieten im neuen „hannoverschen Hafen" investierten. Öl- und Gummiindustrie, zwei geruchsintensive Branchen, haben hier internationale Erfolge gefeiert, haben die Einwohnerzahl der Stadt binnen weniger Jahre durch Einwanderung verzehnfacht.

Im Binnenhafen ist so klar wie nirgendwo anders darstellbar, wie Kolonialismus funktioniert hat. Das Palmöl zum Beispiel wurde nur so lange in den Überseeischen Erzeugerländern gepresst und dann flüssig nach Europa transportiert, bis der weitgereiste Kaufmann Gottfried Leonhard Gaiser 1859 die Pressung erstmals nach Europa, in den Harburger Binnenhafen, verlagerte und mit seiner Palmölmühle reich wurde, während die Palmfruchtlieferanten verarmten. Binnen weniger Jahre ahmten ihm Hamburger und Harburger Kaufleute nach, die Ölmühlen schossen wie Pilze aus dem Boden, und die Blütezeit der Produktion brachte Harburg über Jahrzehnte einen europaweiten Spitzenplatz in der Pflanzenölbranche ein, die ihrerseits in der wirtschaftlichen Bedeutung noch vor dem Mineralöl rangierte.

Industrie und Handel gehören zusammen, bedingen einander. Für den Handelsschwerpunkt Hamburg hat Harburg seit 150 Jahren den industriellen Partner gespielt - mit Erfolg. Nicht umsonst verleibte Hamburg sich Harburg 1937 per Reichsgesetz ein, so dass fortan die so unterschiedlichen Stadtteile auf beiden Elbseiten ihre Rollen gemeinsam und miteinander spielen konnten: Hamburg im Handel, Harburg in der Verarbeitung. Dieser industrielle Erfolg ist Basis für ein kulturelles Verstehen Harburgs als Arbeiterstadt, als Einwandererstadt, als Industriellenstadt.

Bis in die 1970er-Jahre reicht die Erfolgsgeschichte des Industriemotors im Harburger Binnenhafen. Bis Pflanzenöl als Rohstoff durch Erdöl teilweise abgelöst wurde, wie beispielsweise in der Seifenindustrie. Was ist geblieben? Harburg, die Einwandererstadt. Ein Industriehafen, dessen Wasserseite mit der Schiffsgrößenentwicklung nicht mithalten konnte. Automatisierte oder abgewanderte Industrien setzten Arbeitskräfte frei. Brachen entstanden, der Hafen war mit dem Fall der letzten Eisenbahnschranke zwischen Harburger Schloßstraße und Schloßmühlendamm abgeschnitten, und so funktionierte auch die Schere im Kopf der Menschen. Der Binnenhafen war für sie „weg“. Teilnehmer bei Hafen-Rundgängen schildern oft ihre Erinnerungen an Gestank, Lärm und Staub im Hafen der 80er-Jahre.

Auf den ungenutzten, tidefreien Wasserflächen begannen sich Traumschiff-Kapitäne zu tummeln, die ihrem Revier den Namen „Goldene Lagune" gaben. Vom Ölfilm golden schimmerndes Wasser und eine Sehnsucht nach der Südsee lagen und liegen heute noch darin. Wo sonst weit und breit kann man denn so gut vor Naturgewalten geschützt an seinem Schiff werkeln?

Neubauten wachsen empor. Um den Binnenhafen ist ein Tauziehen entbrannt

Jetzt ist der Hafen wieder da! Mit den geschickten Revitalisierungen seit den 90er-Jahren, basierend auf kühnen Visionen, haben einzelne Investoren erste Akzente gesetzt, die weitere Investoren anziehen. Überall wachsen Neubauten empor. Um den Binnenhafen ist ein Tauziehen entbrannt. Ist der Bereich „vogelfrei“ für das Ausleben von Investoren-Ideen? Neue Arbeitsplätze (für Harburger?), neue Wohnbauten (für Harburger?), neue Verkehrsmittel für die neuen Menschen, die es vorher in Harburg nicht gab? Oder ist es möglich und notwendig, die Wiederbelebung der Harburger Keimzelle als Chance, als Gemeinschaftsprojekt zum Wohle Aller zu verstehen, den Binnenhafen wieder zu einem gefühlten Stadtteil Harburgs zu entwickeln?

Weil im Binnenhafen gefühlt bisher „fast niemand wohnte", versteht sich die KulturWerkstatt Harburg – selbst einmal aus Versehen in den Hafen gekommen – heute als die Stimme der Menschen im Binnenhafen. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Entwicklung dieses Gebiets konstruktiv, kritisch und kulturell zu begleiten und der rein wirtschaftlichen Betrachtungsweise einen Gegenpol zu geben, den Hafen für die Harburger zu erhalten. Im Idealfall wäre jeden Tag Hafenfest, weil das Fest es schafft, vielen Menschen Zugang zum Binnenhafen und seinen Reizen zu vermitteln. Der Schlüsselbegriff zu diesem Erleben heißt Industriekultur – laut Wikipedia „Die Geschichte der Technik, die Sozialgeschichte der Arbeit, die Architekturgeschichte der Produktionsstätten sowie der Unternehmer- und Arbeiterwohnungen“.

Harburg ist eine industriell geprägte Gesellschaft. Trotz deutlichen Rückganges der industriellen Präsenz ist die Gesellschaftsstruktur stabil geblieben, sichtbar in den Bereichen Wohnen, Kultur, Gastronomie und Politik. Dabei speisen sich die Kultur der Arbeiterschaft und die Kultur der Industriellen aus derselben Quelle. Die Chance für Harburg besteht nun darin, dies in der postindustriellen Zeit zu erkennen und im Binnenhafen die gemeinsamen industrie-kulturellen Wurzeln zu pflegen. Das Binnhafenfest konnte nur deswegen zum größten Fest in Harburg werden, weil es die Identität der Harburger als Hafenstadt-Bewohner stärkt. Diesem Bedürfnis nach Identität gibt die KulturWerkstatt einen Raum. Hier kommt Harburg im Positiven zurück zu seinen Wurzeln, spürt sich, feiert sich.

Im Binnenhafen ist schon so viel Positives passiert. Harburg kann über den Binnenhafen sein Selbstbewusstsein wiedererlangen, wenn es die industrielle Vergangenheit nicht ausblendet, sondern als Basis künftiger Entwicklungen nutzt. Wie wäre es mit einem Fachkongress „Industrie.Kultur. – Erfolgreiche Revitalisierung von Hafengebieten“, zu dem wir die Akteure anderer Hafenstädte in den Binnenhafen einladen?