Bundestrainer Stefan Lurz über die Moral von Becken- und Freiwasserschwimmern und den Standort Hamburg

Als Stefan Lurz aus der U-Bahn-Station Jungfernstieg trat und sein Blick das erste Mal auf die Binnenalster fiel, spiegelten sich in seinem Gesichtsausdruck Erstaunen und Entzücken wider. „Das ist ja eine fantastische Location”, schwärmte der Bundestrainer der Freiwasserschwimmer. Seine Begeisterung dürfte sich noch steigern, wenn an diesem Sonntag Tausende Zuschauer das Alsterufer säumen und Spitzen- wie Breitensportler beim Durchqueren des Gewässers anfeuern.

Höhepunkt des zweiten Tages des E.on Hanse AlsterCups ist das Duell von Rekordweltmeister Thomas Lurz (Würzburg) über 3000 Meter gegen 22 Staffeln, die sich die Strecke in sechs Abschnitte von je 500 Metern aufteilen. „Ich habe von meinem Bruder gehört, was hier bei der Premiere im vergangenen Jahr los war. Für uns ist ein solches Event eine fantastische Möglichkeit, unseren Sport zu präsentieren“, sagt sein Bruder Stefan. Der Bundestrainer kann sich deshalb „sehr gut vorstellen”, in den nächsten Jahren auf der Binnenalster einen Weltcup zu veranstalten.

Hamburger Abendblatt:

Herr Lurz, der ehemalige Bundestrainer Dirk Lange (Hamburg) hat kürzlich gesagt, jene Schwimmer, die es im Becken nicht schaffen, gehen ins Freiwasser. Trainieren Sie eine Riege von Versagern?

Stefan Lurz:

Diese Aussage ist nicht nur respektlos gegenüber den zahlreichen internationalen Erfolgen unserer Freiwasserschwimmer, sondern auch falsch. Der Tunesier Oussama Mellouli zum Beispiel wurde 2008 Olympiasieger über 1500 Meter, 2012 gewann er die zehn Kilometer. Inzwischen hat Lange mit meinem Bruder Thomas telefoniert und sich entschuldigt.

Richtig ist aber, dass Freiwasserschwimmer aus dem Becken kommen.

Lurz:

Für mich sind Schwimmer Schwimmer. Der größte Unterschied sind im Freiwasser die ständigen Positionskämpfe während des Rennens. Damit kommt nicht jeder zurecht, weil das den Rhythmus gewaltig stören kann. Um sich im Freiwasser durchzusetzen, gehört eine gewisse Robustheit dazu. Vom Trainingsinhalt und der -methodik sind beide Schwimmarten identisch. Wir trainieren wie alle anderen auch das ganze Jahr im Becken.

Den deutschen Beckenschwimmern wurde zuletzt vorgeworfen, dass sie nicht hart und oft genug trainieren.

Lurz:

Wir haben im Becken den Anschluss an die Weltspitze verloren, weil wir in der Tat zu wenig und nicht intensiv genug trainieren. Das entschuldigt jedoch nicht, warum die meisten ihre Leistungen von den deutschen Meisterschaften Ende April in Berlin drei Monate später bei den Weltmeisterschaften in Barcelona nicht wiederholen konnten.

Ihre Erklärung dafür?

Lurz:

Mit den ersten Misserfolgen kippte die Stimmung im Team, das Selbstvertrauen ging verloren, Verunsicherung machte sich breit. Und niemand lehnte sich dagegen auf. Da wurden neue Schwimmanzüge, neue Brillen ausprobiert, sich mit lauter Kleinigkeiten beschäftigt, die für den Wettkampf unerheblich waren. Wenn aber nur 99 Prozent Konzentration vorhanden sind, kommen auch nur 99 Prozent Leistung dabei raus.

Fehlen die Führungsfiguren?

Lurz:

Eindeutig, ja! Die Körpersprache bei der WM war zum Teil verheerend. Da war kein Biss zu spüren. In Barcelona wusste auch niemand, wo die Abschlussparty stattfand. Wir haben mit dem neuen Bundestrainer Henning Lambertz die Chance auf einen Umbruch. Die müssen wir nutzen, sonst schwimmen wir im Becken weiter hinterher. Die Mentalität der Nationalmannschaft wird schon zu lange von denselben Leuten geprägt. Von denen haben wir für die Zukunft nichts mehr zu erwarten, aber sie machen die Atmosphäre im Team kaputt. Wir haben genug Talente, auf die sollten wir setzen – und die Alten zu Hause lassen. Wenn meine Beckenschwimmer von Lehrgängen zurückkehren, erkenne ich sie kaum wieder. Sie wirkten weichgespült, als wenn sie einer Gehirnwäsche unterzogen wurden. Da war jegliches Feuer erloschen.

Warum brennen die Freiwasserschwimmer, obwohl die Rahmenbedingungen weit schlechter sind?

Lurz:

Anfangs mussten wir alle Reisen selbst zahlen. Das hat sich geändert. Wille und Einstellung sind geblieben, Demut, Dankbarkeit und Motivation auch. Wir hatten jetzt einen Weltcup in Kanada, wo mein Bruder bei seiner Gastfamilie auf einer Pritsche schlafen musste. Hätte man diese Bedingungen einem Beckenschwimmer angeboten, der wäre gleich wieder abgereist. In Barcelona hatten wir Probleme mit der Einkleidung. Für die Freiwasserschwimmer kamen die Klamotten zu spät. Das war aber nie ein Thema. Bei den Beckenschwimmern herrschten dagegen tagelang Diskussionen, kommen die T-Shirts rechtzeitig, werden sie passen, welche Farben haben sie.

Was muss man tun, um Freiwasserschwimmen attraktiver zu machen?

Lurz:

Es an solchen Standorten veranstalten wie in Hamburg in der Binnenalster. Wir müssen den Sport zu den Leuten bringen. Das ist das A und O. Dabei kommt es nicht auf die Streckenlänge an, wichtig ist die Location.

Müssen die Strecken nicht auch kürzer werden? Länger als eine Stunde guckt doch heute niemand mehr zu.

Lurz:

In Hamburg gibt es schon die 1000 und 1500 Meter, auch bei Sponsorenveranstaltungen im Rahmen von Weltcups. Wir müssen uns verändern, aber alles Schritt für Schritt.

Befürworten Sie einen Weltcup in Hamburg in der Alster?

Lurz:

Das wäre eine super Sache. Ich bin optimistisch, dass wir diese Veranstaltung in den nächsten Jahren hier hinbekommen werden, auch wenn sie einen sechsstelligen Betrag kostet.