Sie gelten in Europa als Grundlage der Moral im Zusammenleben. Auf ihnen fußen Gesetzgebung und ethisches Empfinden. „Du sollst nicht töten“, das leuchtet noch ein. Aber was heißt, „nicht falsch Zeugnis reden“ in Zeiten von Facebook? Was sagen uns die Zehn Gebote heute? Wer sie heute interpretiert, muss versuchen, sie in die Gegenwart zu übersetzen. Das 8. Gebot (nach reformierter Zählung) interpretiert Dr. Jörg Herrmann, Direktor der Evangelischen Akademie der Nordkirche

Beim Diebstahlsverbot muss ich immer an meine erste Beichte denken. Ich bin katholisch groß geworden und erst im Erwachsenenalter zum evangelischen Glauben konvertiert. Die erste Beichte vor der ersten Kommunion im zarten Alter von neun Jahren war eine etwas unheimliche Angelegenheit, ein wenig wie Zahnarzt ohne Bohren. Und was gab es schon zu beichten? Ein Klassiker ging immer: das Äpfelklauen aus Nachbars Garten. Da hatten wir Jungs ein geringes Unrechtsbewusstsein. Man durfte sich nur nicht erwischen lassen. Ansonsten war das nicht so schlimm, ein Kavaliersdelikt, wie die Erwachsenen sagen. Bei allem, was man kritisch über die Praxis des Bußsakramentes im Katholizismus sagen kann: An dieser Stelle hat die Beichte unser kindliches Gewissen geschärft. Das Eigentum anderer ist unbedingt zu achten!

Gewissensschärfung ist heute, denke ich, im Blick auf das Diebstahlsverbot generell notwendig. Nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, sondern gerade auch in der Welt der Erwachsenen. Denn hier grassiert der verdeckte Diebstahl, der gern heruntergespielt wird. Stichwort Steuerhinterziehung. Für viele ein Kavaliersdelikt wie früher das Äpfelklauen. Dabei wird dem Staat vorsätzlich vorenthalten, was ihm und damit allen zusteht. Der Fall Hoeneß hat das Thema wieder in die Schlagzeilen gebracht. Vielleicht hat diese Debatte ja zur Steuermoral beigetragen. Das wäre gut. Allerdings ist das generelle Vertrauen in den Staat seit der Finanz- und Wirtschaftskrise wohl nicht unbedingt gewachsen, müssen doch die Steuerzahler für Schulden geradestehen, die andere zu verantworten haben. Stichwort Finanzindustrie. Zu Recht fühlten sich viele Anleger bestohlen, deren Zertifikate und „Finanzprodukte“ von heute auf morgen nichts mehr wert waren. Der Grund war ja kein Naturereignis, sondern das unverantwortliche und gegenüber dem Eigentum anderer respektlose Handeln von Menschen.

Ursprünglich wurde das Diebstahlsverbot im Übrigen noch weitreichender verstanden. Es richtete sich gegen den Menschenhandel, gegen den Diebstahl von Männern und ihren Verkauf in die Sklaverei. Man denke an den biblischen Josef, den seine Brüder nach Ägypten verkauften, um ihn loszuwerden. Das ging damals. Und heute?

Die Sklaverei früherer Tage ist zwar abgeschafft, die Ausbeutung von Menschen damit aber keineswegs abgestellt. Ich denke an die Näherinnen in Bangladesch, deren Situation uns unlängst wieder durch schreckliche Brände in dortigen Textilfabriken vor Augen geführt wurde. Das ist Sklaverei im 21. Jahrhundert: für Hungerlöhne unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen zwölf Stunden schuften. Ein Diebstahl an Arbeitskraft, in den wir unwillkürlich verwickelt sind, wenn wir bei Anbietern einkaufen, die ihre Jeans unter solchen Bedingungen fertigen lassen. Darum appellieren kritische Organisationen: „Augen auf beim Kleiderkauf!“ Denn wir können etwas ändern: durch unser individuelles Konsumverhalten, durch politisches Engagement, durch die Unterstützung der „Kampagne für saubere Kleidung“.

Die Orientierung an den Zehn Geboten ist in der globalisierten Welt nicht einfacher geworden. Sicher, die Achtung vor dem anderen und seinem Eigentum beginnt noch bei Nachbars Äpfeln. Aber es sind Dimensionen dazugekommen. Darum ist es sinnvoll, wieder zu fragen: Was heißt das heute eigentlich: Du sollst nicht stehlen?