John Boynes neuer Roman fragt nach dem Anderssein

Moderne Märchen? Ja, gibt es, Bungeejumping und Smartphone inklusive. Märchen funktionieren auch ohne Feen und böse Zauberer. Was an ihnen aber für Kinder so wichtig ist, ist die archaische Klarheit der Struktur, die fraglose Unterteilung in Gut und Böse, die den jungen Lesern das Verständnis erleichtert und sie dabei begleitet, ihr eigenes Weltbild und Wertesystem zu entwickeln.

Deshalb wäre John Boynes Kinderroman „Die unglaublichen Abenteuer des Barnaby Brocket“ auch dann ein Märchen, wenn sein Held nicht ein Junge wäre, der die Eigenschaft hat zu schweben, ob er will oder nicht. Barnaby hat nämlich Eltern, die sich vom Tag seiner Geburt an nicht die geringste Mühe geben, ihn so zu lieben, wie er ist. Die ihn für eine Eigenschaft tadeln, die er sich nicht ausgesucht hat, und schließlich einen Plan ersinnen, ihn loszuwerden. Herzloser sind auch die Eltern von Hänsel und Gretel bei den Brüdern Grimm nicht. Der einzige Unterschied ist der, dass bei Boyne nicht nackte Not am Werk ist, sondern die Angst der Eltern, in den Kreisen des kleinbürgerlichen Vorstädtchens von Sydney als anders aufzufallen.

Erwachsenen Lesern mag das arg schwarz-weiß erscheinen. Doch gerade das ist das Kindgerechte an Boynes Motivation. Außerdem ist er weit entfernt davon, den moralischen Zeigefinger zu heben. Stattdessen entführt er Barnaby im Alter von zarten acht auf eine luftige und hochkomische Weltreise. Wer sich je gefragt hat, wie es sich unter der Herrschaft einer gleichsam umgekehrten Schwerkraft lebt, der findet sie hier. Mühelos nimmt Boyne die Perspektive seines Protagonisten ein, um zu schildern, was der Achtjährige alles bedenken muss, um nicht davonzuschweben. Die eingeübten Handgriffe, aber auch die Gewichte, die ihn am Boden halten sollen, all das trägt Barnaby mit anrührender Demut – und nimmt zugleich genau wahr, wie einfühlsam oder brachial seine Umwelt mit seiner Besonderheit umgeht. So entwirft Boyne fast beiläufig eine Parabel auf das Leben mit Behinderungen. Dass er sich dafür eine Eigenschaft ausgesucht hat, die im wirklichen Leben nicht anzutreffen ist, verleiht dem Ganzen eine zauberhafte Leichtigkeit.

Erwachsene Leser dürfen sich über Boynes scharfzüngige Beobachtungen freuen. Mit wenigen Federstrichen deutet der Autor die dumpfe Geradlinigkeit eines großstädtischen Rechtsanwalts oder die Arroganz einer New Yorker „Gallerina“ an. Da ist er ganz auf der Höhe der Zeit.

Auf seiner Odyssee begegnet Barnaby einer bunten Reihe von Schicksalsgenossen, die Boyne höchst diskret charakterisiert. Ob der schwebende Junge bei zwei alten Lesben unterkommt oder einem mausarmen Künstler zu Weltruhm verhilft, sie alle eint, dass ihre Familien sie einst verstießen. Kein Wunder, dass der belesene Held Waisenkindromane wie „Oliver Twist“ oder „Jane Eyre“ zu seinen Lieblingslektüren zählt. Und das gute alte Kuriositätenkabinett darf im Reigen von Barnabys Bekanntschaften natürlich auch nicht fehlen.

Zwar landet Barnaby nach seinen haarsträubenden Erlebnissen wieder in Sydney. Aber eine billige Lösung seiner unterschwellig bitteren Geschichte versagt sich der Autor, stattdessen entwickelt er den Schluss aus der Logik des Buchs heraus. Weder lässt sich Barnaby von seinem Anderssein heilen, noch kehrt er zu seiner Familie zurück. Stattdessen tut er, was für ihn richtig ist. Und das hat wieder das Zeug zum Märchen.

John Boyne 12.9., 11 Uhr, St. Katharinen, Katharinenkirchhof 1. Eintritt 3 € pro Person; nur für Schulklassen (ausverkauft)